Eine Arbeitsgruppe von ASA Handicap mental hat sich zum Ziel gesetzt, ein Manifest für eine inklusive Mode zu erarbeiten, dieses genehmigen zu lassen und es bei einem Kolloquium im Mai 2021 vorzustellen. Drei Mitglieder mit Behinderung sprechen über das Thema Mode und ihre Bedürfnisse in diesem Zusammenhang.
Wie definieren Sie inklusive Mode?
Céline Witschard (CW): Es ist eine Mode, die für alle Menschen geeignet ist. Kleider und Accessoires müssen einfach zu handhaben sein; ausserdem müssen sie sich ohne Hilfe einfach an- und ausziehen lassen, damit die Eigenständigkeit gefördert wird.
Kleider und Accessoires müssen einfach zu handhaben sein; ausserdem müssen sie sich ohne Hilfe einfach an- und ausziehen lassen, damit die Eigenständigkeit gefördert wird.
Filipe Ambriel Machado (FAM): Es ist eine Mode von allen für alle Menschen, unabhängig von dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht, der Identität, sexuellen Orientierung, Herkunft, Hautfarbe, Religion, Nationalität, dem körperlichen Erscheinungsbild, der Krankheit, Behinderung, neurologischen Störung (z.B. ADHS, Autismus, Tourette-Syndrom) oder psychologischen Auffälligkeit (z.B. psychische Störungen).
Was fordern Sie im Zusammenhang mit diesem Thema?
CW: Es ist wichtig, die Kleidung und die Accessoires entsprechend weiterzuentwickeln, aber auch die Verkaufsflächen zu verbessern und das Verkaufspersonal zu schulen, damit es die Betroffenen richtig betreuen und bedienen kann.
Mode muss den Begriff inklusiv ernst nehmen, denn heutzutage sind viele Bekleidungsangebote bzw. Umkleidekabinen für die Betroffenen schlicht nicht barrierefrei zugänglich.
Filipe Ambriel Machado, mitglied der Arbeitsgruppe "Manifest für eine inklusive Mode"
FAM: Mode muss den Begriff inklusiv ernst nehmen, denn heutzutage sind viele Bekleidungsangebote bzw. Umkleidekabinen für die Betroffenen schlicht nicht barrierefrei zugänglich. Dies kann auch Folgen für Transgender-Personen haben, die sich einer Situation der Hypersexualisierung ausgesetzt sehen könnten. Wenn ich in ein Modegeschäft gehe, werde ich vom Verkaufspersonal oder der Kundschaft aufgrund meines Geschlechts oftmals missverstanden (AdR: dies ist dann der Fall, wenn eine Person aufgrund des ihr zugewiesenen Geschlechts und nicht aufgrund des Geschlechts mit dem sie sich identifiziert, zugeordnet wird).
Inklusive Mode: sinnvoll oder nicht?
CW: Kleidung ist ein Grundbedürfnis, und wenn wir anderen und uns selbst gefallen wollen, dann ist das unser gutes Recht. Das Wichtigste ist das Recht auf anständige und menschenwürdige Kleidung, unabhängig von unseren körperlichen Besonderheiten und unseren besonderen Bedürfnissen.
Kleidung ist ein Grundbedürfnis, und wenn wir anderen und uns selbst gefallen wollen, dann ist das unser gutes Recht.
Céline Witschard, mitglied der Arbeitsgruppe "Manifest für eine inklusive Mode"
Verena Kuonen (VK): Manche werden sagen, dass Mode und Ästhetik belanglos sind – für diejenigen, die keine anderen Probleme haben, mag das vielleicht stimmen, aber für uns ist es ein doppeltes Handicap.
Worauf achten Sie als erstes, wenn Sie ein Kleidungsstück kaufen?
CW: Ich bin immer hin- und hergerissen zwischen dem, was mir gefällt, und dem, was praktisch ist. Ich versuche immer, Kleidung zu finden, die leicht zu pflegen ist.
Ich bin immer hin- und hergerissen zwischen dem, was mir gefällt, und dem, was praktisch ist.
FAM: Erst schaue ich auf den ästhetischen Anblick, dann auf die Farbe und dann auf den Preis. Mir ist es egal, ob es sich um Kleidung für Männer oder für Frauen handelt.
Erst dann frage ich das Verkaufspersonal, ob es mir steht. Für den Schnitt und die Farben brauche ich den Blick einer anderen Person.
Verena Kuonen, mitglied der Arbeitsgruppe "Manifest für eine inklusive Mode"
VK: Ich schaue mit den Händen – der Stoff ist sehr wichtig. Dann schaue ich auf das Design, den Schnitt, die Passform, das Dekolleté und die Länge. Dann probiere ich es an, um festzustellen, ob ich mich darin wohlfühle. Erst dann frage ich das Verkaufspersonal, ob es mir steht. Für den Schnitt und die Farben brauche ich den Blick einer anderen Person.
Inklusive Modenschau von Gabi Fati im Mai 2021 aus Anlass des Festivals Out of the Box. © Isabelle Meister / Out of the Box
Haben Sie es schon mal erlebt, etwas nicht gekauft zu haben, obwohl es Ihnen gefällt? Wenn ja, warum?
CW: Handtaschen sind meistens nicht gross genug, um alles, was ich brauche, hineinzutun. Deshalb sind sie nicht praktisch, wenn es darum geht, etwas zu transportieren. Ich muss die Hände frei haben, denn ich habe ja bereits meinen Blindenstock. Ich erinnere mich, dass ich einmal eine Jeans gekauft habe, bei der ich auf dem Weg nach Hause einen Fehler gefunden habe und die ich nicht mehr an der Kasse umtauschen konnte.
FAM: Es sind verschiedene Gründe: Es gab meine Grösse nicht oder es war zu teuer oder früher das soziofamiliäre Umfeld. Meine Eltern haben gewisse Vorurteile, wenn es um die LGBTQ+-Community geht; sie erkennen meine Geschlechtsidentität nicht an. Es gefällt ihnen gar nicht, dass ich mich auch für Frauenkleider begeistern kann.
Erzählen Sie uns etwas über Ihre Schwierigkeiten und Barrieren sowie über Ihre schönen Erlebnisse, wenn Sie an Kleidung und den Kauf von Kleidern im Geschäft denken.
CW: Die Präsentation der Kleider, die Schwierigkeiten, z.B. das Etikett mit der Waschanleitung zu lesen, die Beschilderung, die Beleuchtung oder die Regale, die mitunter bis zum Boden reichen. Es wäre sehr nützlich, einen Chip an den Kleidern anzubringen, auf dem Sprachnachrichten aufgezeichnet werden können.
Es wäre sehr nützlich, einen Chip an den Kleidern anzubringen, auf dem Sprachnachrichten aufgezeichnet werden können.
FAM: Probleme macht manchmal das Verkaufspersonal, das bezüglich der Diversität jenseits binärer Vorstellungen von Mann und Frau mitunter nicht ausreichend informiert ist. Mein Autismus wird mir manchmal vor Augen geführt. Zu den schönen Erlebnissen gehört es, in der Öffentlichkeit mit den Kleidern auszugehen, die zu mir passen, selbst wenn es Frauenkleider sind.
Das Verkaufspersonal ist bezüglich der Diversität jenseits binärer Vorstellungen von Mann und Frau mitunter nicht ausreichend informiert. Mein Autismus wird mir manchmal vor Augen geführt.
VK: Ich erinnere mich an deutlich mehr schöne Erlebnisse als an Enttäuschungen. Ein Handicap kann manchmal zu Ressentiments führen, aber das Verkaufspersonal muss diese Situationen überwinden und uns bezüglich der Produkte in ihren Geschäften beraten.
Was können wir konkret tun, damit Mode inklusiver wird? Was sind Ihre Bedürfnisse und Erwartungen?
CW: Dass die Designer sich dieses Themas annehmen und Kleidung entwerfen, die für Personen mit Behinderung gemacht ist. Die grossen Marken sollten da ein Vorbild sein. Ausserdem sollten die angebotenen Produkte zum selben Preis erhältlich sein wie normale Kleidung, obwohl die serienmässige Herstellung besonderer Waren eine echte Herausforderung ist. Und das Personal sollte gut geschult, aufmerksam und zuvorkommend sein.
Ausserdem sollten die angebotenen Produkte zum selben Preis erhältlich sein wie normale Kleidung.
FAM: Man muss die Einstellung in der Mode und in der Gesellschaft allgemein verbessern, denn es gibt nicht das eine einzige Vorzeigemodell, sondern ganz viel Diversität. Ich bin Autist, ich habe ADHS, ich bin Transgender, ich bin schweizerisch-portugiesischer Doppelbürger und ich bin vor allem ein Mensch. Mein Rat an die Modedesigner: Hören Sie den Betroffenen zu, deren Erfahrungen sind durchaus legitim. Wenn wir zusammenarbeiten wird die Welt ein wenig inklusiver.
Ich bin Autist, ich habe ADHS, ich bin Transgender, ich bin schweizerisch-portugiesischer Doppelbürger und ich bin vor allem ein Mensch.
VK: Es ist vor allem wichtig, die Designer und die grossen Modehäuser aufzuklären, zu überzeugen und zu informieren. Man muss an ihre Türen klopfen und ihnen zeigen, dass sie nichts zu verlieren haben. Das braucht seine Zeit, aber Schritt für Schritt schaffen wir das. Ich hoffe, dass dieses Manifest dazu führt, das Bewusstsein für das Thema zu schärfen. Es ist sehr wichtig, mit einer Behinderung gut auszusehen, sonst wird man als «armer Behinderter» betrachtet, was wiederum dem Aufeinander zugehen und der Integration abträglich ist.
Über unsere Gesprächspartner
Céline Witschard (CW) ist Unternehmerin, Gründerin und Geschäftsführerin von Vision Positive, einem Unternehmen für barrierefreie Dienstleistungen für Sehbehinderte.
Filipe Ambriel Machado (FAM) ist Mitglied im Komitee von ASA-Handicap mental, führt ein selbstbestimmtes Leben, ist Assistenzperson bei Ex&Co, kulturelle Mediationsperson, Lehrkraft in der Erwachsenenbildung und militante Queer-Person.
Verena Kuonen (VK) ist verantwortliche Co-Präsidentin von Inclusion Handicap; sie leidet an einer juvenilen Makuladegeneration und hat mit 50 Jahren ihre komplette Sehfähigkeit verloren. Sie engagiert sich leidenschaftlich in der Politik und ist im Gemeinderat von Pully aktiv. Sie hat zwei erwachsene Kinder und ist Grossmutter von vier Enkelinnen. Ihr Engagement umfasst alles, von dem sie überzeugt ist, dass es richtig ist.
Das ganze Interview (französisch) ist in der Septemberausgabe 09/2021 der Pages Romandes erschienen, die Sie per E-Mail an sarah.cornaz@bluewin.ch bestellen können.
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