«Gegenwart Inklusion» anstatt «Zukunft Inklusion»

Autor

Jan Habegger

Veröffentlicht am

Zwanzig Jahre nach Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes und zehn Jahre nach Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention sollen die Fortschritte gefeiert und der Schwung für die Zukunft mitgenommen werden. Das Kantonale Sozialamt Zürich, die Behindertenkonferenz Zürich und die Stiftung «Denk an mich» luden kürzlich zur Eröffnungsfeier der Nationalen Aktionstage Behindertenrechte ins Fernsehstudio in Zürich ein.

An der Eröffnungsfeier nahmen Menschen mit und ohne Behinderung aus der ganzen Schweiz teil. Darunter waren zahlreiche Behördenvertreter*innen – inklusive einer Gruss-Videobotschaft von Bundesrätin Baume-Schneider – Mitarbeitende der Organisationen von und für Menschen mit einer Behinderung und zahlreiche Selbstvertreter*innen. Bedient wurden die Gäste, bevor es zur eigentlichen Feier ging, von den Mitarbeitenden mit einer kognitiven Beeinträchtigung des «machTheaters».

Auf der Bühne waren Menschen mit einer Behinderung ebenfalls zahlreich vertreten. Alex Oberholzer co-moderierte den Anlass und der insieme-Chor von insieme Zürcher Oberland sang gemeinsam mit Peter Reber.

Auf der Bühne waren Menschen mit einer Behinderung ebenfalls zahlreich vertreten.

Weiter zeigten Tatjana Binggeli, Geschäftsführerin vom Schweizerischen Gehörlosenbund SGB-FSS, selbst gehörlos und Saphir Ben Dakon, Aktivistin und Vorstandsmitglied von Agile.ch auf, welche Hürden Menschen mit einer Behinderung noch heute erfahren. So sei der medizinische Doktortitel von Tatjana Binggeli für sie «zwar ein Erfolg, dass sie die einzige gehörlose Person in der Schweiz mit einem solchen ist, ist für die Schweiz aber eine Schande».

 

Der insieme-Chor von insieme Zürcher Oberland sang gemeinsam mit Peter Reber. © Philip Böni

 

«Gegenwart Inklusion» anstatt «Zukunft Inklusion»

Saphir Ben Dakon zeigte in ihrer grandiosen Rede auf, wie die Gesellschaft aussähe, wenn es nicht mehr «Zukunft Inklusion», sondern «Gegenwart Inklusion» heissen würde. Sie zeichnet eine Welt, in der es selbstverständlich ist, dass eine Gruppe aus Menschen mit und ohne Behinderung besteht.

Eine Welt, in der Personen im Rollstuhl an jeder Haltestelle von Bus und Zug selbständig ein- und aussteigen können.

Eine Welt, in der Personen im Rollstuhl an jeder Haltestelle von Bus und Zug selbständig ein- und aussteigen können. Und eine Welt, in der nicht unterstellt wird, dass eine Person mit Behinderung für eine grandiose Rede sicherlich auf Unterstützung angewiesen sei. Also eine Welt, in der Ableismus nicht mehr existiert.

Dass ausgerechnet das Podium zum Stand der Umsetzung der UNO-Behindertenkonvention nur aus Menschen ohne Behinderung bestand, ist schade. So wurde leider die Chance verpasst, dass die Teilnehmenden mit einer Behinderung auf die Antworten der Podiumsteilnehmenden eingehen, nachhacken und darauf aufmerksam machen können, dass für sie in der Schweiz weiterhin viele Barrieren bestehen.

Dass ausgerechnet das Podium zum Stand der Umsetzung der UNO-Behindertenkonvention nur aus Menschen ohne Behinderung bestand, ist schade.

Gleichzeitig zeigte der Anlass, wenn auch unbeabsichtigt, auf, wie wichtig die Sensibilisierung der Gesellschaft für die Anliegen und Lebenserfahrungen von Menschen mit einer Behinderung ist.

Tausend Aktionen in der ganzen Schweiz

Mit den rund tausend Aktionen, welche bis am 15. Juni in der ganzen Schweiz stattfinden werden, lernen hoffentlich viele Personen ohne Behinderung mehr über den Alltag von Menschen mit einer Behinderung. Und unsere Gesellschaft macht hoffentlich einen Schritt Richtung inklusive Zukunft. Eine Zukunft, in der es keine Aktionstage mehr braucht. Oder zumindest eine Zukunft, wo bei einem Eröffnungsanlass für Aktionstage Behindertenrechte Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung nicht mehr «nur» servieren, singen und tanzen dürfen, sondern eine Rede halten.