Handiconsult – massgeschneiderte Beratung

Autor

Sarah Cornaz

Veröffentlicht am

Floriane Baltzinger hat an der Gründung von Handiconsult mitgewirkt. Handiconsult bietet ambulante Beratung durch ärztliche Fachpersonen, Pflegefachpersonen und Mundhygieniker*innen an und koordiniert die Pflege von Jugendlichen und Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung. Interview.

Warum wurde Handiconsult ins Leben gerufen?

Ich habe als Mama eines kleinen Mädchens mit Mehrfachbehinderung und im Bewusstsein um die vielfachen Herausforderungen, mit denen wir Eltern konfrontiert sind, an der Gründung von Handiconsult mitgewirkt. Die Pflege von Menschen mit Behinderungen ist komplex und erfordert spezifische Kenntnisse von Gesundheitsfachpersonen, insbesondere in Bezug auf die Kommunikation, das Erkennen von oft untypischen Symptomen, die Bewertung von Schmerzen, die Urteilsfähigkeit, die Selbstbestimmung und die Zustimmung zur Pflege. Ausserdem steigt die Lebenserwartung dieser Personen, was ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung chronischer Krankheiten oder Folgebehinderungen mit sich bringt. Diese Bevölkerungsgruppe ist somit besonders verletzlich, und es gestaltet sich als äusserst schwierig, ihren speziellen Gesundheitsbedürfnissen gerecht zu werden.

 

Floriane Baltzinger während einer ambulanten Beratung. © Handiconsult

 

Inwiefern werden Spitäler den Präventions- und Gesundheitsförderungsbedürfnissen nicht gerecht?

Sie werden diesen Bedürfnissen sehr gut gerecht, insbesondere bei der Verringerung krankheitsbedingter Komplikationen und bei der Gesundheitsberatung. Allerdings sind die Hauptaufgaben von Spitälern die Notfallversorgung, die Behandlung von Erkrankungen in der Akutphase sowie die Vermeidung von Rückfällen.

Präventions- und Gesundheitsförderungsmassnahmen sind langfristig angelegt und müssen für ein besseres Ergebnis in den Alltag der Menschen integriert werden.

Präventions- und Gesundheitsförderungsmassnahmen sind langfristig angelegt und müssen für ein besseres Ergebnis in den Alltag der Menschen integriert werden. Die ambulante und häusliche Beratung und Pflege eignen sich gut für die Vermittlung von Kenntnissen, um die betroffene Person und deren Umfeld bei der Stärkung und beim Erhalt von Fähigkeiten im Alltag zu unterstützen.

 

 

Ziele von Handiconsult

Handiconsult verfolgt mehrere Ziele: Wir wollen die Pflege verbessern, die Gesundheit der betroffenen Personen fördern, ihre gesundheitliche Selbstbestimmung begünstigen und sie in Präventionsprogramme einbeziehen.

Ist die Spitalversorgung bei bestimmten Arten von Behinderungen für die Betroffenen besonders ungeeignet?

Aufgrund von wechselnden Fachkräften, der Weitläufigkeit im Spital und Faktoren wie Lärm und Lichter, die zu einer Reizüberflutung führen können, kann sich der Aufenthalt in Spitälern für Menschen mit autistischen Störungen und geistiger Behinderung als schwierig erweisen. Manchmal kommt man um eine Versorgung im Spital aber nicht herum. Unsere Aufgabe in Zusammenarbeit mit dem Projekt für Menschen mit Behinderungen des Universitätsspitals Genf (HUG) ist es, den Spitalsaufenthalt mit der betroffenen Person und ihren Angehörigen so gut wie möglich vorzubereiten, damit alles unter den bestmöglichen Bedingungen abläuft.

Wie hilft Handiconsult Betroffenen, sich selbstständiger und aktiver um ihre Pflege zu kümmern?

Für uns sind die Betroffenen in der Lage, zu verstehen, zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Wir informieren sie, holen ihre Zustimmung für sie betreffende Belange ein und bereiten Informationen ihren Fähigkeiten entsprechend auf. Wir entwickeln uns in Partnerschaft mit ihrem Umfeld weiter und passen ihre Umgebung an. Wir arbeiten proaktiv, um ihr Verständnis zu verbessern, ihnen die Angst etwas zu nehmen und ihre Ressourcen und Schwierigkeiten zu identifizieren, und auf diese Weise ein für sie geeignetes Projekt auszuarbeiten.

Für uns sind die Betroffenen in der Lage, zu verstehen, zu lernen und sich weiterzuentwickeln.

Falls erforderlich erleichtern wir ihnen die Formalitäten und begleiten sie, wenn nötig, in verschiedene Versorgungseinrichtungen. Wir bieten auch «Probebesuche» an, damit sie sich orientieren und Pflegekräfte kennenlernen können, und sich am Tag X dann sicher und wohl fühlen. Während diesen Besuchen können auch Fotos gemacht werden, um die Vorbereitung zu erleichtern. Manchmal werden auch zuerst die Angehörigen behandelt. Das kann den Betroffenen helfen, besser zu verstehen, was sie erwartet.

Können Sie uns ein paar Beispiele nennen?

Wir wurden einmal für die Impfung eines Patienten kontaktiert, dem dies schier unmöglich erschien. Wir haben es mit allen möglichen Mitteln versucht, ohne Erfolg. Bei einem Gespräch mit seiner Mutter über ihren letzten Urlaub haben wir dann erfahren, dass er gerne im Auto fährt. Daraufhin haben wir in die Wege geleitet, dass er im Auto geimpft wird.

Bei einem Gespräch mit seiner Mutter über ihren letzten Urlaub haben wir dann erfahren, dass er gerne im Auto fährt. Daraufhin haben wir in die Wege geleitet, dass er im Auto geimpft wird.

Da wir unsere Berichte systematisch an das Universitätsspital Genf schicken, konnten in der Folge auch andere Behandlungen im Auto organisiert werden. Es ist einfach toll, dass das Spital flexibel auf eine solch komplexe Situation reagiert hat.

 

Wo besteht noch Ausbaubedarf, um die Prävention und Gesundheitsförderung zu verbessern?

An vielen Stellen! In der Pädiatrie zum Beispiel. Es ist wichtig, früh anzusetzen und Betroffenen erste positive Erfahrungen mit der Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Die Primär- und Sekundärprävention (Zugang zu den empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen, Frauengesundheit, Missbrauch, Sexualität, Herz-Kreislauf-Erkrankungen), inklusive Gesundheitsworkshops sowie die Betreuung entsprechend den altersbedingten Bedürfnissen der betroffenen Person und ihrer Angehörigen müssen weiterentwickelt und die Zusammenarbeit mit der Psychiatrie in akuten Situationen verstärkt werden.

 

Auch Unkenntnis seitens der Fachleute ist ein Hindernis für die Förderung der Gesundheitserziehung. © Handiconsult

 

Durch die Schulung von Gesundheitsfachkräften wird unser Versorgungssystem indirekt gestärkt, denn je besser Fachkräfte im Umgang mit Menschen mit Behinderungen geschult sind, desto besser können sie sich um deren Gesundheit kümmern. Ausserdem ist es wichtig, die behandelnden Ärztinnen und Ärzte weiter zu unterstützen, um das Versorgungsangebot in der Nähe auszubauen. Viele Ärztinnen und Ärzte lehnen diese Patientengruppe ab, da die Kosten für ihre Behandlung nicht ausreichend erstattet werden. Auch Unkenntnis und Vorurteile seitens der Fachleute stellen ein Hindernis für die Förderung der Gesundheitserziehung und der Zustimmung zur Behandlung dar.

 

 

Der ganze Beitrag (französisch) ist in der Septemberausgabe 04/2022 der Pages Romandes erschienen, die Sie per E-Mail an sarah.cornaz@bluewin.ch bestellen können.

 

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