Tanzen mit unseren Unterschieden

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insieme Redaktorin

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Sich bewegen und sich mit anderen verbinden – ob mit oder ohne Behinderung: Das ist inklusiver Tanz. Eintauchen in einen Workshop in Bern.

Das in einem ehemaligen Dampfkraftwerk untergebrachte Kulturzentrum „Dampfzentrale“ liegt im Licht der Herbstsonne. Die von Grünpflanzen und Rohrleitungen bedeckte Terrasse vermittelt eine entspannte Stimmung. Im Innern befindet sich ein grosser Saal mit einer Bar sowie ein Aufzug, der Menschen im Rollstuhl die Möglichkeit eines barrierefreien Zugangs zu den oberen Etagen gibt. So wie einigen der Teilnehmenden am Workshop für inklusiven Tanz an diesem Sonntag. Der Verein, der für diesen Workshop verantwortlich zeichnet, wurde 1998 unter dem Namen „BewegGrund“ gegründet: Sein Name setzt sich einerseits aus den Begriffen „Bewegung“ und „Grund“ zusammen, und vermittelt andererseits die zugrundeliegende Motivation zu tanzen.

 

Männer und Frauen, eine davon im Rollstuhl, stehen mit ausgebreiteten Armen und bilden einen Kreis.

Sich bewegen und sich mit anderen verbinden – ob mit oder oder ohne Behinderung: Das ist inklusiver Tanz. © insieme Schweiz / Martine Salomon

 

Im Saal begrüsst uns eine Frau mit einem entwaffnenden Lächeln und einem lebhaften Temperament, das sich in den roséfarbenen Strähnen ihrer dunklen Haare widerspiegelt. Mariana Tembe lebt ohne Beine und leitet den Workshop. Sie stammt aus Mosambik und wohnt heute in Portugal. Im Rahmen des Festivals « Tanz in Bern » tritt sie in den kommenden Tagen mit der Gruppe „Dançao com a Diferença“ (Tanzen mit einem Unterschied) auf. Die für den Workshop eingeschriebenen Personen bilden einen Querschnitt aus verschiedenen Sprachen und Kulturen, Körpern und Energien sowie Erfahrungen im Bereich Tanz.

Die für den Workshop eingeschriebenen Personen bilden einen Querschnitt aus verschiedenen Sprachen und Kulturen, Körpern und Energien sowie Erfahrungen im Bereich Tanz.

Ein Belgier nimmt zum ersten Mal an einem Tanz-Workshop teil, eine Frau hat früher viel getanzt und jüngst wieder damit begonnen, und ein junges Mädchen hat im vergangenen Jahr an einem Workshop teilgenommen und möchte die Erfahrungen wiederholen.

 

Zwei Frauen sitzen auf dem Boden und tanzen miteinander.

Mariana Tembe aus Mosambik lebt ohne Beine und leitet den Workshop. © insieme Schweiz / Martine Salomon

 

Ich habe ein doppeltes Interesse an diesem Workshop: Einerseits bin ich Betreuerin von Tanz-Workshops, in denen vor allem inklusive Elemente im Mittelpunkt stehen, andererseits arbeite ich als Journalistin. Mit meinem Notizblock und meinem Fotoapparat komme ich mir vor wie ein Elefant im Porzellanladen. Und ich bin ein wenig eingeschüchtert. 

Freiheit – Verbindung – Vertrauen – Taktgefühl: So lauten nur einige Schlüsselbegriffe, die aus dem Mund von Mariana Tembe sprudeln.

Aufgrund der Sprachenvielfalt wird als gemeinsame Sprache Englisch verwendet. Ich sage ein paar Worte, ohne zu wissen, ob man mich versteht. Aber eines weiss ich: Ich bin in einem solchen Workshop genau so willkommen wie ich bin. Freiheit – Verbindung – Vertrauen – Taktgefühl: So lauten nur einige Schlüsselbegriffe, die aus dem Mund von Mariana Tembe sprudeln.

Miteinander verbunden und völlig aufmerksam

 Zum Aufwärmen ertönt eine langsame und intensive Musik. Die Schultern heben, den Kopf für ein Ja oder ein Nein schütteln oder die Arme geradeaus in verschiedene Richtungen ausstrecken. Bereits diese vermeintlich simplen Bewegungen lassen mich meine Schmerzen im Nacken, in den Schultern und im Rücken spüren. Ich sollte meinen Körper in seinem derzeitigen Zustand respektieren. Dann fordert Mariana Tembe uns auf, geradeaus zu gehen und dabei mit den Augen die Verbindung zu einer anderen Person aufzunehmen. Anschliessend geht es seitlich und auch rückwärts weiter. Der Rhythmus wird schneller und wir schaffen es, uns im Kollektiv harmonisch zu bewegen.

Der Rhythmus wird schneller und wir schaffen es, uns im Kollektiv harmonisch zu bewegen.

Als nächstes sollen wir uns mit einer Person verbinden, um gemeinsam zu gehen. Von Zeit zu Zeit werden wir aufgefordert, den Partner oder die Partnerin zu wechseln. Aber wir müssen unsere Absicht klar bekunden und prüfen, ob die Person damit einverstanden ist. Wir testen eine Verbindung in unserer Nähe, aber auch eine auf Distanz. Es wird uns bewusst, dass es nicht immer eines Blickes bedarf, sondern die Energie zwischen uns ausreicht, um Verbindungen zu pflegen und wahrzunehmen.

 

 

Ganz allmählich wird der Gang zum Tanz. Und da sich alle im Saal gleichzeitig bewegen, ist es auch weniger unangenehm. Es kommt zu Momenten flüssiger, anmutiger Bewegungen. Manchmal laufen wir Gefahr, einigen Teilen unseres Körpers zu viel zuzumuten oder an einen Lautsprecher am Rande des Saals zu stossen. Ich zucke zusammen, wenn die Räder eines Rollstuhls über meine Füsse fahren oder ich gegen eine andere Person stosse. Habe ich ihr wehgetan? Fällt sie vielleicht hin?

Es gilt, alle Antennen aufzustellen, um zu spüren, was mit uns selbst und was um uns herum passiert.

Der Tanz zwingt uns dazu, immer aufmerksam zu bleiben. Es zählt nur der jeweilige Augenblick – wir können uns weder auf dem letzten ausruhen, noch über den nächsten Gedanken machen. Es gilt, alle Antennen aufzustellen, um zu spüren, was mit uns selbst und was um uns herum passiert. Und selbst wenn eine Verbundenheit entsteht, gilt es, offen für mögliche Verbindungen mit anderen zu bleiben.

Ein kurzes Zögern und anmutige Augenblicke

Als nächstes sollen wir eine Verbindung mit einer anderen Person herstellen, indem wir sie berühren, und uns gemeinsam in Saal fortbewegen, ohne den Kontakt zu verlieren. Ich zögere und spüre ein Schamgefühl. Welchen Teil des Körpers soll ich berühren? Soll ich mich bücken, um auf derselben Höhe zu sein wie mein Gegenüber und so den Kontakt zu erleichtern? Was will die andere Person? Und was will ich? Man muss einfach irgendwo anfangen und es ausprobieren.

Und was will ich? Man muss einfach irgendwo anfangen und es ausprobieren.

Und dann schlägt uns Mariana Tembe vor, mit unseren Gesten Linien zu bilden. Dann Kreise. Dann, was uns gefällt. Mitunter habe ich das Gefühl, zu fliegen. Alles ist ganz einfach und intensiv. 

 

Und mitunter verliere ich mich und habe das Gefühl, wie ein Sandkorn das Getriebe der fliessenden Bewegungen der Gruppe zu stören. Aber es ist egal.

Willkommen sein, wie man ist, atmen, entschleunigen, Energie aus dem Tanz der anderen erlangen, immer kleinere Bewegungen machen. Ich lasse nur meine Hände tanzen, oder nur meinen Kopf. Ich bin kein Wirbelsturm, sondern eine leichte Brise.

Und am Ende braucht es etwas Mut (auch wegen der Musik, die immer wilder in unseren Ohren klingt): Wir bilden einen Kreis; jede und jeder darf sich nun frei und ungebunden in die Mitte begeben, um zu tanzen. Vom Rand des Kreises verfolgt man, was die anderen tun. Man geniesst diese wortlosen Dialoge und Formen, die sich wie von Zauberhand bilden. Man ermisst den Weg, den wir in zwei Stunden zurückgelegt haben. Der Tanz wird zu einer ständigen Verhandlung mit unserem Körper, er zeigt unsere Tagesform, das Gefühl für den Ort, unsere Partner*innen und alle anderen Teilnehmenden. Und alle sind auf dem Weg zu sich selbst und zu den anderen.