Erwachsene mit und ohne Beeinträchtigung lesen im öffentlichen Raum zusammen ein Buch und sprechen darüber. insieme Biel Seeland hat zusammen mit der Stadtbibliothek Biel und der Stiftung für Inklusion und Gemeinschaft den ersten inklusiven LEA Leseklub der Schweiz lanciert.
Die Bücher liegen schon auf den zu einem Kreis angeordneten Bistrotischchen bereit, als die Leserinnen nach und nach in der Stadtbibliothek Biel eintreffen. Leila ist mit dem Zug aus Lyss gekommen, Ajsa aus Laupen, Margrit mit dem Bus aus dem Bieler Quartier Mett. Miriam lebt seit fünf Jahren in einer eigenen Wohnung in Biel, weitere Teilnehmerinnen des Leseklubs kommen aus der Region sowie einer Institution in Biel. Es gibt Rüeblitorte vom LadenBistro Biel und Tee.
Der Finger fährt zögernd von Wort zu Wort. Wenn sie stockt, liest Melina weiter, die als «Mitleserin» die Aufgabe hat, die Teilnehmerinnen zu unterstützen, die nicht so gut oder gar nicht lesen können.
Judith von insieme Biel Seeland begrüsst die Gruppe und fragt, wer sich noch daran erinnert, was im letzten Kapitel mit den beiden Figuren geschah. «Sie sind in London bei Tante Tessa», sagt Elena. Nun erinnern sich auch die anderen wieder. Die Geschichte heisst «Drei kleine Worte» und ist eine Kurzfassung in Einfacher Sprache. Wer beginnt zu lesen? «Ich», sagt Conny sofort, setzt sich die Brille auf und beginnt langsam vorzulesen. Der Finger fährt zögernd von Wort zu Wort. Wenn sie stockt, liest Melina weiter, die als «Mitleserin» die Aufgabe hat, die Teilnehmerinnen zu unterstützen, die nicht so gut oder gar nicht lesen können. Sie liest dann ein paar Worte vor, und Conny spricht sie nach.
Schwierige Wörter und Fremdwörter sind im Text unterstrichen und können hinten im Buch nachgeschlagen werden. Doch zuerst fragt Judith in die Runde: «Wer weiss, was ein Secondhandladen ist?» Doris meldet sich: «Dort kauft man gebrauchte Kleider.» Mit dem Vorlesen geht es reihum. Als Nächstes liest Ajsa, flüssig, ohne ein Lesezeichen unter die Zeile zu halten. Sie hat zu Hause bereits das ganze Buch gelesen.
Lesen Einmal Anders
Als Vorbild diente der LEA Leseklub in Deutschland. Dort gibt es ein Netzwerk mit 50 LEA Leseklubs. LEA steht für Lesen Einmal Anders. Erwachsene Menschen mit und ohne Beeinträchtigung lesen gemeinsam an einem öffentlichen Ort – in einer Bibliothek oder einem Café – Bücher und Texte in Einfacher Sprache. Alle dürfen mitmachen, auch Menschen, die nicht lesen können. Hauptsache, sie haben Freude und Lust an Büchern, Geschichten und gesellschaftlicher Teilhabe.
Die Gruppe trifft sich jeden Donnerstagabend. Heute sind acht von zehn Teilnehmerinnen mit Beeinträchtigung dabei. Dass ausschliesslich Frauen am Leseklub teilnehmen, war nicht geplant, erklärt Susanne von der Stadtbibliothek Biel. Dies habe sich so ergeben. Elena wird heute von ihrem Vater begleitet. Rainer kannte aus den USA solche Leseklubs und fragte insieme Biel Seeland, ob man so etwas nicht auch in der Schweiz lancieren könnte.
Es ist ein Freizeitangebot und dient nicht dem Lesenlernen. Finanziert wird der Leseklub durch die Projektförderung Bibliotheken des Kantons Bern, insieme Biel Seeland und die Stiftung für Inklusion und Gemeinschaft. Zudem steuert die Stadtbibliothek Biel Eigenmittel bei – in Form von Arbeitsstunden von Mitarbeitenden für die LEA-Treffen sowie von Öffentlichkeitsarbeit und administrativem Aufwand. insieme Biel Seeland hat für 2024 den Kauf der Bücher übernommen.
Was gefällt den Teilnehmerinnen in Biel am Leseklub? Miriam sagt über ihre Motivation: «Ich verstehe es hier besser, weil auch etwas erklärt wird. Gemeinsam in der Gruppe lesen macht Spass.» Und Doris meint: «Ich habe Fortschritt im Lesen gemacht.
Die Auswahl der Texte geschieht gemeinsam. Es werden jeweils drei Vorschläge eingebracht, dann wird darüber abgestimmt. «Dieses Buch hier habe ich lieber als das letzte, das wir gelesen haben», sagt Leila, und Corinne ergänzt: «Ich auch, ich habe gerne Liebesgeschichten.»
Die Stimmung ist heiter, es wird viel geredet und gelacht. Die Gruppe sitzt im hinteren Teil der Bibliothek mit den Büchern in Leichter Sprache. Nur ein paar Meter entfernt zwischen den Bücherregalen sitzen andere Menschen über Bücher gebeugt, lesen still oder arbeiten, einige sprechen leise miteinander, und hin und wieder schaut jemand bei der lebhaften Runde des Leseklubs vorbei.
Besonders für Menschen, die in einer Institution leben, ist es sehr wertvoll, herauszukommen, anderen Menschen zu begegnen, im öffentlichen Raum, das macht Inklusion aus.
«Besonders für Menschen, die in einer Institution leben, ist es sehr wertvoll, herauszukommen, anderen Menschen zu begegnen, im öffentlichen Raum, das macht Inklusion aus», sagt Judith.