Berufsausbildung – können wir wirklich frei entscheiden?

Autor

Sarah Cornaz

Veröffentlicht am

Wahl der Lehre, Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Umgang und Eltern unter Druck: Eine Mutter blickt auf die berufliche Laufbahn ihres Sohnes zurück.

Während seines letzten Jahres in der Regelschule absolvierte mein Sohn Praktika in den Bereichen Tischlerei und Zimmerei, da er unbedingt mit Holz arbeiten wollte. In den Praktikumsberichten wurde seine Arbeitsfähigkeit hervorgehoben, aber auch seine Schwierigkeit, sich in die bestehenden Teams zu integrieren. Er hatte das Glück, einen Betrieb zu finden, der bereit war, ihn mit seiner Besonderheit aufzunehmen. Er konnte ein EFZ beginnen, das später in ein EBA umgewandelt wurde.

Die ersten Schwierigkeiten

Im zweiten Jahr wurde mein Sohn leider von anderen Jugendlichen drangsaliert, die sein Anderssein nicht verstanden. Sein Psychologe hat uns darüber informiert, und die IV ist dann mit ihrem Coaching-Projekt ANDIAMO eingeschritten, das sich an junge Waadtländer*innen  unter 25 Jahren richtet und ihnen die Eingliederung in die Arbeitswelt erleichtern will. Die Massnahmen von ANDIAMO erfüllten ihren Zweck, und die Person, die zu Hause vorbeikam, war sehr kompetent.

Die IV meinte, dass der Beruf Zimmermann angesichts der Autismus-Diagnose ungünstig sei, da er zu lärmig sei und zu viel körperliche Nähe erfordere.

Die IV meinte, dass der Beruf Zimmermann angesichts der Autismus-Diagnose ungünstig sei, da er zu lärmig sei und zu viel körperliche Nähe erfordere. Die IV schlug deshalb vor, eine Ausbildung in Küche oder Logistik im Ausbildungszentrum Orif zu finanzieren. Das hätte bedeutet, dass mein Sohn ein neues EFZ hätte beginnen müssen. Er stellte sich entschieden dagegen, das wollte  er auf keinen Fall.

Wie soll er mit einem Monatslohn von 3100 CHF leben, vor allem, wenn er eine Familie gründen möchte? 

 

Wir haben deshalb mit der IV ausgehandelt, dass mein Sohn seine Ausbildung abschliessen und anschliessend die erforderlichen Praktika absolvieren konnte, die ihm nicht gefallen haben. Nachdem er sein EBA erhalten hatte, bekam er eine Anstellung in einem Zimmereibetrieb, der meinen vollen Respekt hat. Da er eine Stelle gefunden hatte, hatte er nun aber keinen Anspruch mehr auf die Unterstützung durch die IV und das ANDIAMO-Programm. Da frage ich mich schon, wie es weitergehen soll. Wie soll er mit einem Monatslohn von 3100 CHF leben, vor allem, wenn er eine Familie gründen möchte?

 

Wahl der Lehre, Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Umgang und Eltern unter Druck. Der Berufsweg von Jugendlichen mit Autismus ist steinig. ©Erik Bonerfält

Verbesserungsvorschläge

Da war zum Beispiel das Problem der Arbeitszeiten, vor allem am Morgen: Die Arbeitsstelle war zu weit weg und die Arbeit begann so früh, dass er nicht mit dem Zug hinfahren konnte. Ein gemeinsames Gespräch mit der IV und dem Arbeitgeber hätte es vielleicht ermöglicht, eine Anpassung auszuhandeln. Zum Beispiel, eine halbe Stunde nach den anderen zu kommen oder eine Lösung für die morgendliche Fahrt zur Arbeit zu finden. So musste ich ihn hinbringen, rund 30 Kilometer von zu Hause entfernt, bevor ich zurückfuhr und selbst zur Arbeit ging. Das hielt ich drei Monate durch, dann machte sich die Erschöpfung bemerkbar. Ich habe schliesslich eine Wohnung für ihn gefunden, von der aus er seine Arbeitsstelle mit dem Velo in einer halben Stunde erreichen kann. Ich finde, dass den Eltern, die versuchen, alles zu richten, eine enorme Verantwortung auferlegt wird.

Das berufliche Vorhaben muss unbedingt multidisziplinär mit dem Jugendlichen gestaltet werden, unter Berücksichtigung seiner Wünsche und Fähigkeiten, seiner Familie und deren Ressourcen, unter Einbezug seines Psychologen und selbstverständlich auch des IV-Beraters.

 

Das berufliche Vorhaben muss unbedingt multidisziplinär mit dem Jugendlichen gestaltet werden, unter Berücksichtigung seiner Wünsche und Fähigkeiten, seiner Familie und deren Ressourcen, unter Einbezug seines Psychologen und selbstverständlich auch des IV-Beraters. Meiner Meinung nach wäre es hilfreich gewesen, alle an einen Tisch zu bringen, um ein umfassenderes Bild zu erhalten und so eine Art kollektive Intelligenz zu erzeugen.

 

Momentan läuft alles gut und ich bin froh, dass ich ihn bei seiner Entscheidung unterstützt habe. Ansonsten hätte er womöglich einen psychischen Zusammenbruch erlitten, der zu einer Depression, wenn nicht sogar zu einem Drama hätte führen können.

Momentan läuft alles gut und ich bin froh, dass ich ihn bei seiner Entscheidung unterstützt habe. Ansonsten hätte er womöglich einen psychischen Zusammenbruch erlitten, der zu einer Depression, wenn nicht sogar zu einem Drama hätte führen können.

Aber ich hätte auch gerne eine vermittelnde Drittperson, um zum Beispiel mit dem Chef zu sprechen, wenn es ein Problem gibt. Wenn mir mein Sohn nämlich erzählt, dass er bei der Arbeit etwas falsch gemacht hat, kann ich nicht einschätzen, wie gravierend es ist. Wenn ihm plötzlich gekündigt würde, was wäre dann?

 

 

 

Der ganze Beitrag (französisch) ist in der Septemberausgabe 03/2023 der Pages Romandes erschienen, die Sie per E-Mail an sarah.cornaz@bluewin.ch bestellen können.

 

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