Stellungnahme zu einem Fall von sexuellem Missbrauch in einer Institution

Autor

Daniel Kasper

Veröffentlicht am

Institutionen sind Hochrisikozonen für Grenzverletzungen. Diese Aussage belegen Studien, Fachliteratur sowie persönliche Erfahrungen seit über 30 Jahren in diesem Berufsfeld. Diese Erkenntnis wird jedoch noch immer von vielen Heimleitungen, Ausbildungsverantwortlichen, Aufsichtsämtern und Politiker:innen negiert.

Wie viele Tragödien und Leidensgeschichten wie die im NZZ-Artikel Beschriebene müssen noch passieren, bis sich das Wegschauen und Tabuisieren endlich ändert und wirksame Massnahmen eingeführt werden?

Für mich ist es zynisch, wenn Fachpersonen, Politiker:innen und Behörden vorgeben, erst auf Schweizer Zahlen warten zu wollen, um handeln zu können. Untersuchungen aus anderen Ländern belegen deutlich, dass rund 64% aller Frauen und rund 50% aller Männer mit Beeinträchtigung im Laufe ihres Lebens ein- oder mehrmals sexuelle Grenzverletzungen erleben.

Für mich ist es zynisch, wenn Fachpersonen, Politiker:innen und Behörden vorgeben, erst auf Schweizer Zahlen warten zu wollen, um handeln zu können.

Da stellen sich mir folgende Fragen: Wieso sollen diese Zahlen in der Schweiz völlig anders aussehen? Und: Worauf warten wir in der Schweiz denn noch? Müssen noch mehr Menschen mit Beeinträchtigungen, ihre Angehörigen und ihr Umfeld solch unvorstellbares Leid erfahren?

 

Wirkungsvolle Prävention

Was kann getan werden, damit Menschen mit Beeinträchtigung bestmöglich geschützt sind? Bildlich gesprochen, geht es darum, möglichst viele Hürden aufzubauen; jede für sich genommen, nützt wenig. Erst im Verbund entfalten sie ihre Wirksamkeit. Deshalb brauchen Einrichtungen umfassende Schutzkonzepte, die immer auf verschiedenen Ebenen und bei verschiedenen Akteuren ansetzen müssen.

 

Eine Hand, die die Geste "Stopp" bezeichnet, in Grossaufnahme auf schwarzem Hintergrund.

Untersuchungen aus anderen Ländern belegen deutlich, dass rund 64% aller Frauen und rund 50% aller Männer mit Beeinträchtigung im Laufe ihres Lebens ein- oder mehrmals sexuelle Grenzverletzungen erleben. © Unsplash / Saif71

 

Prävention in einer Einrichtung ist zuallererst einmal Chefsache! Das bedeutet, dass Präventionsbemühungen sowie die entsprechende Haltung nur dann fruchten können, wenn sie von der Leitungsebene ohne Wenn und Aber getragen, vertreten und eingefordert werden. Prävention muss immer und gleichzeitig auf sechs Ebenen ansetzen:

Personal & Kultur der Besprechbarkeit

Die sorgfältige Auswahl von neuem Personal und das konkrete Nachfragen bei Referenzpersonen zum Thema Grenzverletzungen müssen zum Standard gehören. Eine Kultur der Besprechbarkeit, in der jede Irritation, jede Vermutung, jeder Verdacht offen und angstfrei angesprochen werden kann, muss etabliert und gefördert werden.

Wissen & Bildung

Alle Beteiligten – Klientel, Leitung, Mitarbeitende, Angehörige, Freiwillige – müssen regelmässig und obligatorisch zum Thema sensibilisiert und geschult werden. Zudem müssen leicht zugängliche und verständliche Materialien zum Thema Grenzverletzungen und Prävention in allen Formen erarbeitet und zur Verfügung gestellt werden.

Risikomanagement

Nach dem präzisen Eruieren möglicher Risikosituationen in allen Bereichen der Einrichtung müssen daraus verständliche und verbindliche Verhaltenskodexe abgeleitet werden. Zudem müssen konkrete Standards sowie fachlich begründete Abweichungen transparent abgemacht und regelmässig überprüft werden.

 

 

Krisenmanagement

Jede Einrichtung braucht ein professionelles Krisenmanagement, in welchem Kommunikationswege, Zuständigkeiten, Abläufe, wer was zu tun hat, wer was zu unterlassen hat u.v.m. geklärt sind, und zwar, bevor ein Krisenfalls eintritt. Zentrale Haltungen sind: Jede Meldung wird ernstgenommen, unabhängig davon, wer meldet. Alle Meldungen, Beobachtungen und Massnahmen werden schriftlich dokumentiert. Die Persönlichkeitsrechte aller Beteiligten werden bis zu einer allfälligen Verurteilung gewahrt. Opfer werden umfassend geschützt und Kontakte zwischen Opfer und beschuldigter Person werden vermieden.

Beschwerde- und Meldewesen

Beschwerde- und Meldestellen und deren unterschiedliche Aufgaben sind eingerichtet, allen Beteiligten bekannt und für alle leicht erreichbar. Sie sind mit entsprechenden Kompetenzen und Ressourcen ausgestattet.

Partizipation

Alle Klient:innen sind, unabhängig von ihren Einschränkungen, einbezogen, sensibilisiert und haben ggf. eine unabhängige Fürsprechperson. Meldemöglichkeiten müssen für alle Menschen vorliegen und bekannt sein.

Daniel Kasper

"Prävention in einer Einrichtung ist zuallererst einmal Chefsache!"

Daniel Kasper, Dozent HSA-FHNW

Last but not least: Die Schweizer Charta zur Prävention von sexueller Ausbeutung, Missbrauch und anderen Grenzverletzungen ist und bleibt ein Papiertiger, wenn die dort formulierten Grundsätze, Absichtserklärungen und Schutzmassnahmen nicht umgesetzt werden.

Die Schweizer Charta zur Prävention von sexueller Ausbeutung, Missbrauch und anderen Grenzverletzungen ist und bleibt ein Papiertiger, wenn die dort formulierten Grundsätze, Absichtserklärungen und Schutzmassnahmen nicht umgesetzt werden.

Dazu müssten diese aber bei allen den Verbänden angeschlossenen Institutionen verbindlich eingefordert und von Seiten der kantonalen Heimaufsichten entsprechend finanziell unterstützt werden. Ich frage mich, weshalb Verbände, Behörden und Politik trotz besseren Wissens bis heute keine griffigen und verbindlichen Vorschriften erlassen haben.

Aufgaben von Gesellschaft und Politik

  • Das Thema sexualisierte Gewalt muss als gesellschaftliches Problem anerkannt und auf allen Ebenen (Gesetze, Gerichte, Polizei, Medizin, Psychologie, Medien etc.) sachlich und engagiert angegangen werden.
  • Gesetze und Strafnormen müssen so angepasst werden, dass sie nicht mehr, wie dies jetzt der Fall ist, Täterinnen oder Täter schützen, sondern dass sie Opfer beim (auch späten) Outing unterstützen und schützen.
  • Die Finanzierung von Präventions- und Schutzmassnahmen in allen Einrichtungen (Schulen, Heime, Spitäler, Kliniken, Alterspflege) müssen finanziell abgesichert werden.
  • Das Einrichten einer nationalen Meldestelle in der Absicht, eine Anlaufstelle für einstellende Instanzen zu etablieren sowie wirksame und langfristige Berufsverbote zu ermöglichen, ist ein Muss.
  • Zum anderen müssten auch Fachstellen und Opferberatungen stärker für die Kommunikationsmöglichkeiten und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen sensibilisiert werden.
  • Die Themen Gewalt, sexuelle Grenzverletzungen sowie Präventions-Management müssen verbindlich in allen entsprechenden Ausbildungsgängen (Lehre, HF, FH, Uni) curricular verankert werden.

 

Eine ausführliche Version dieses Blogs kann beim Autor bezogen werden.

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