Les Sureaux – ein Wohnprojekt jenseits aller gängigen Muster

Autor

Anne-Sophie Ledermann

Veröffentlicht am

Die Bewohnerinnen und Bewohner am chemin des Sureaux in Chêne-Bougeries (GE) haben einen echten Paradigmenwechsel vollzogen. Seit 2021 leben die Personen mit Unterstützungsbedarf der Fondation Ensemble und einige Mitglieder der gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaft CODHA gemeinsam auf einem Gelände, das eigens zur Förderung von Vielfalt und Inklusion gestaltet wurde.

«Guten Tag, wir freuen uns, Sie in unserem ganz besonderen Zuhause willkommen zu heissen», begrüsst uns Marianne, eine der Bewohnerinnen und Mitglied der CODHA, bei der Medienkonferenz am 30. September im Wohnhaus. Aufgrund der Covid-19-Pandemie konnte die offizielle Einweihung erst eineinhalb Jahre nach Einzug stattfinden. Es ist ein eindrückliches Herrenhaus, das im Rahmen des sogenannten Sureaux-Konzepts vollständig renoviert wurde.

Es ist ein eindrückliches Herrenhaus, das im Rahmen des sogenannten Sureaux-Konzepts vollständig renoviert wurde.

Auf dem Gelände befinden sich zudem geschützte Werkstätten der Stiftung, die auch von Personen genutzt werden, die nicht vor Ort leben. Direkt gegenüber steht ausserdem ein unlängst fertiggestelltes Wohnhaus. Der dazwischen liegende, freundlich gestaltete Innenhof dient als Begegnungsstätte, während ein Gemüsegarten der Selbstversorgung dient.

ein Herrenhaus mit hellgrünen Fensterläden

Das Herrenhaus wurde vollständig renoviert. © insieme Schweiz / Antoine Tardy

Es ist fantastisch, diesen Wohnkomplex zu teilen. Ich erlebe eine enorme Dankbarkeit.

Insgesamt befinden sich auf dem Gelände 19 Wohnungen, von denen drei der Fondation Ensemble vorbehalten sind. Personen mit Beeinträchtigung leben jeweils zu viert zusammen und können sich dort so autonom wie möglich bewegen. Julien ist im März 2021 eingezogen und sehr zufrieden: «Ich war mir nicht ganz sicher, was auf mich zukommt, bevor ich hergezogen bin. Ich hatte Angst, wie ich wohl aufgenommen werden würde. Jetzt fühle ich mich aber wohl. Ich bin froh, weil es mein Leben verändert hat. Ich bin jetzt viel unabhängiger.»

Ich war mir nicht ganz sicher, was auf mich zukommt, bevor ich hergezogen bin. Ich hatte Angst, wie ich wohl aufgenommen werden würde. Jetzt fühle ich mich aber wohl.

Dieses Zusammenleben gefällt auch Marianne: «Es ist fantastisch, diesen Wohnkomplex zu teilen. Ich erlebe eine enorme Dankbarkeit. Ich habe mit mehreren Personen gesprochen, und alle sind sich einig: Das Zusammenleben mit den Personen mit Unterstützungsbedarf hat einen äusserst beruhigenden Effekt.» Sie schaut Julien an, und die Verbundenheit zwischen den Nachbarn lässt sich unschwer erraten. «Du bist so natürlich und offen. Manchmal unglaublich freundlich und manchmal etwas zurückgezogen, aber es ist immer klar, was du möchtest. Für mich ist es eine wunderbare Erfahrung und eine tolle Bereicherung», erklärt Marianne.

Austausch, Inklusion und aktive Beteiligung

Von Anfang an wurden Workshops mit den künftigen Bewohnerinnen und Bewohnern durchgeführt, um die Bedürfnisse in einer solchen Wohnanlage besser zu verstehen. Marianne und Julien erinnern sich an eine der ersten Veranstaltungen: «Die Workshopleiter haben eine riesige Kiste Playmobil mitgebracht. Wir sollten uns alle eine der Figuren aussuchen. Dann haben wir darüber nachgedacht, wie wir die gemeinsamen Räume gestalten wollen. Jedes Mal, wenn jemand das Wort ergriff, war es die Figur, die an seiner Stelle gesprochen hat», erzählt Marianne.

In einem anderen Workshop ging es um die Farben der Wände. «Wir sind im Haus umhergegangen und sollten uns vorstellen, welche Farbe uns gefallen würde. Dann haben wir abgestimmt. Und, wie findest du das Ergebnis?» fragt sie Julien. «Es sieht nicht schlecht aus. Mir gefällt es. Es ist ganz warm. Und wir haben auch Blumenkästen aus Holz gebaut.» Im Innenhof stehen tatsächlich grosse Kästen, die lange vor dem Ende der Renovierungsarbeiten bepflanzt wurden.

Wir sind immer am Wochenende hergekommen, um die Blumen zu giessen. So sind wir auch ein Teil der Bauarbeiten geworden»

«Wir sind immer am Wochenende hergekommen, um die Blumen zu giessen. So sind wir auch ein Teil der Bauarbeiten geworden», erinnert sich Marianne. Seit dem Entwurf der ersten Konzepte ist eine enge Zusammenarbeit zwischen den künftigen Bewohnerinnen und Bewohnern und den Architektinnen Laura Mechkat und Daniela Liengme entstanden, die auf gegenseitigem Zuhören beruht und die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt. Ein Psychologe, selbst mit Beeinträchtigung, hat dazu beigetragen, die Inklusion von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung zu erleichtern. Ein Expertenteam für behindertengerechtes Wohnen wurde beratend hinzugezogen, um barrierefreie Zugänge, Farben, Material, Lichtverhältnisse und Schalldämmung dahingehend zu gestalten, dass die Atmosphäre für alle passend ist.

Alles muss für alle zugänglich sein

Kurz nach dem Einzug wurde eine Vereinigung der Bewohnenden gegründet mit einem Komitee, in dem die Personen der CODHA und der Stiftung Ensemble vertreten sind. Die goldene Regel auf dem Gelände lautet: Alles muss für alle zugänglich sein. So gibt es beispielsweise keine schriftlichen Protokolle der Generalversammlungen; alles wird aufgezeichnet, damit Menschen, die nicht lesen können, ebenfalls Zugang zu den Informationen erhalten. Um sich auf dem Gelände zurechtzufinden, ist auf den Schildern kein Text zu lesen, sondern es wird alles über Piktogramme und Farben gelöst.