Querdenker, El Hombre und Sokrates schreiben einen Blog

Autor

Susanne Schanda

Veröffentlicht am

Unterstützte Kommunikation arbeitet mit verschiedenen Zeichenformen, Kommunikationsordnern und Apps. Indem sie diese mit den Händen, mit den Augen oder mit Knöpfen anwählen, können Menschen mit komplexen und mehrfachen Behinderungen mitteilen, was sie essen oder anziehen wollen. Und noch viel mehr. Zu Besuch bei der Lerngruppe «Sprachvirus», die den Blog «Idiotenspeak» schreibt.

Sie nennen sich Querdenker, El Hombre und Sokrates und schreiben zusammen den Blog «Idiotenspeak». Hinter diesen Pseudonymen stehen drei Männer um die dreissig, alle haben mehrfache Behinderungen im Autismusspektrum. Sie verfügen über keine Lautsprache und brauchen im Alltag viel Unterstützung. Doch das ist für sie kein Grund, sich nicht regelmässig über ihren Blog auszutauschen, Themen zu diskutieren, den Stil und die Wortwahl. Denn die drei nutzen zahlreiche Werkzeuge der Unterstützten Kommunikation (UK).

Die Sprachwissenschaftlerin Andrea Alfaré, Co- Geschäftsführerin von effective communication (efc), moderiert die Treffen alle zwei Wochen im Büro der Firma in der Altstadt von Rheinfelden (AG). Der «Idiotenspeak» ist aus der Lerngruppe «Sprachvirus» hervorgegangen, die seit 2012 besteht. Die Führung des Blogs ist für die drei Männer Teil ihrer Berufsbildung.

Eine Hand klickt auf eine Tastatur, die auf einem Tablet-Bildschirm angezeigt wird. Der Bildschirm zeigt auch Wortvorschläge an.
Die Mittel der Unterstützten Kommunikation sind vielfältig. Hier die «Snap + Core First» App und ihre Tastatur mit Wortvorhersage. Foto: © Vera Markus

Aufmerksamkeit und Koordination trainieren

Auf dem lang gezogenen ovalen Holztisch tippt Jaime Garcia (El Hombre) Buchstaben in sein iPad. Langsam hebt er den linken Arm, schaut auf die Tastatur und führt den Mittelfinger auf einen Buchstaben. Dann hebt er den Arm wieder, verharrt kurz und tippt den nächsten Buchstaben an. Als er sich umdreht, um auf die Uhr zu schauen, fordert ihn die neben ihm sitzende Moderatorin auf, sich zu konzentrieren und auf die Tastatur zu blicken. Er dreht sich zurück und tippt den nächsten Buchstaben. Im Display zeigen sich drei Wortvorschläge. Er wählt ohne zu zögern «drastisch». Andrea Alfaré hat als Moderatorin die Frage gestellt, in welchem Tonfall sie den Blogeintrag schreiben wollen. Jetzt ruft sie Christian Kaspar (Querdenker), der nervös durch den Raum tigert, zurück an den Tisch. Er hat Mühe, seine Hände zu koordinieren, fährt damit im Gesicht herum. Andrea Alfaré erinnert ihn daran, die linke Hand zu parkieren, während er die rechte langsam hebt. Sein Zeigefinger ist schon ausgestreckt, bereit fürs Tippen, aber sein Blick schweift noch im Raum umher. «Auf die Buchstaben schauen», sagt Andrea Alfaré. Er tippt langsam, Buchstabe um Buchstabe, Wort um Wort: «gegen die brk war das einschliessen». Jaime Garcia hebt die Hand und schaut zu Andrea Alfaré, das Signal, dass er etwas sagen möchte. Sie setzt sich zu ihm und schaut ihm aufmerksam zu, wie er den Arm hebt, auf die Tastatur blickt und schreibt: «corona- knast».

«Wir verhalten uns eben anders als Neurotypiker»

Die jungen Männer haben einerseits Probleme mit der Wahrnehmungs- und Emotionsverarbeitung, der Handlungsplanung und Impulskontrolle, andrerseits verfolgen sie mit Interesse die Nachrichten und haben den Originaltext der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) gelesen. Sie haben etwas zu sagen und wenden sich mit ihrem Blog bewusst an ein Publikum. Weil sie Mühe mit der Koordination von Blick und Bewegung und mit der Planung und Ausführung mehrteiliger Handlungen haben, brauchen sie eine gewisse Assistenz und sind auf UK angewiesen: unterschiedliche Apps auf dem iPad, Kommunikationsordner mit Piktogrammen und Schrift, ein Lautstab, der beim Zeigen auf ein Piktogramm das entsprechende Wort ausspricht, und zwei grosse Druckknöpfe, ein grüner für Ja, ein roter für Nein. Die in der UK ebenfalls eingesetzten Gebärden seien bei den drei jungen Männern keine Option, erklärt Andrea Alfaré: «Weil sie ihre Bewegungen schlecht koordinieren können.»

Während sich Sokrates (Yannick Striebel) brummend ins Nebenzimmer aufs Sofa zurückgezogen hat und sich ein Kissen über den Kopf legt, schreibt Querdenker weiter. Als er fertig ist, steht er auf, kommt zu mir herüber und schaut mich auffordernd an. Andrea Alfaré liest vor, was er geschrieben hat: «Frau Schanda, was wissen Sie über UK?» und «Was beobachten Sie so bei uns?» – «Sie bewegen sich viel, schauen herum, das wirkt unkonzentriert, aber Sie nehmen trotzdem alles wahr, hören zu.» El Hombre kommentiert: «Wir verhalten uns eben anders als Neurotypiker.» – «Was sind Neurotypiker?» – «Leute wie Sie, mit Mehrheitsgehirn. Wir aber sind anders verdrahtet.»

«Im Heim gibt es wenig gute UK für Menschen mit komplexen Behinderungen. Sie werden unterschätzt und übergangen.»

Querdenker, Blogger

Christian Kaspar und Yannick Striebel wohnen in derselben Wohngruppe einer Institution, Jaime Garcia lebt bei seinen Eltern, arbeitet aber in einem Tagesstrukturangebot der Institution seiner zwei Freunde. Querdenker kritisiert: «Im Heim gibt es wenig gute UK für Menschen mit komplexen Behinderungen. Sie werden unterschätzt und übergangen.» Und El Hombre ergänzt: «Ja genau. Viele denken, Essen auswählen reicht als Kommentar für uns. Aber es reicht nicht. Alle können mehr, kein Schwebi ist blöd.» Schwebi schreiben die drei Blogger als Abkürzung für Schwerbehinderte.

UK ist eine langsame Form des Kommunizierens

Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen, die über keine Lautsprache verfügten, würden häufig unterschätzt, meint Andrea Alfaré. Sie konnte in ihrer Dissertation nachweisen, dass oft nicht die kognitiven Beeinträchtigungen den Spracherwerb behindern, sondern vielmehr das Verhalten der unterstützenden Interaktionspartner. UK ist eine langsame Form des Kommunizierens und bedingt viel Geduld. Sokrates hat durch Zeigen auf Piktogramme zwar auf einige Fragen der Moderatorin geantwortet, aber mit dem Schreiben hapert’s heute. Er bleibt auf dem Sofa im Nebenzimmer und beteiligt sich kaum an der Diskussion. «Das gehört auch dazu», sagt Andrea Alfaré. «Jedes Treffen verläuft anders. Sie haben ihre Ticks und Zwänge, Probleme mit der Koordination und Konzentration, aber mit der nötigen Unterstützung können sie sich sehr differenziert ausdrücken. Und als Gruppe funktionieren sie gut. El Hombre, der körperliche Nähe eigentlich nicht verträgt, lässt sich von Querdenker sogar leicht an der Schulter berühren.»

Die Aufgabe von Andrea Alfaré in der Gruppe Sprachvirus ist die der Moderatorin, welche die Blogger bei der Koordination und Konzentration unterstützt. Drei Stunden dauern die vierzehntäglichen Treffen jeweils. Als draussen ein Auto vorfährt, hebt El Hombre den Kopf, erkennt seinen Vater und verabschiedet sich mit einem leichten Nicken. Kurz darauf kommt das Taxi, das Querdenker und Sokrates zurück in die Institution fährt. Bis zum nächsten Mal in zwei Wochen.

Dieser Artikel stammt aus dem im September 2020 veröffentlichten insieme Magazin.

Andrea Alfaré und effective communication

Dr. Andrea Alfaré ist Sprachwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Unterstützte Kommunikation (UK) für Menschen mit komplexen und mehrfachen Beeinträchtigungen. Zusammen mit Thekla Huber leitet sie die Firma efc/effective communication gmbh, die Kommunikationstrainings für Menschen mit UK-Bedarf sowie Schulung und Beratung für Institutionen im Bereich UK anbietet. Ein solches Kommunikationstraining ist die Lerngruppe «Sprachvirus», die gemeinsam den Blog «Idiotenspeak» schreibt (www.idiotenspeak.ch). Eine Auswahl der besten Blogs ist als Buch erschienen: «Wir reden auch mit normaten. Sie können ja nichts dafür.» Es kann bestellt werden bei efc. efc ist auch Partner von insieme bei einem Projekt mit den Bildungsclubs. Dabei wird ein Tool der UK erarbeitet, das in den Bildungs- und Freizeitangeboten der insieme-Vereine eingesetzt werden kann.