«Darauf haben wir über zehn Jahre gewartet!»

Autor

Susanne Schanda

Veröffentlicht am

Der 7. Dezember 2022 war ein grosser Tag für Menschen mit Beeinträchtigung im Kanton Bern. Während im Bundeshaus zwei neue Mitglieder für den Bundesrat gewählt wurden, debattierte das Kantonsparlament im Berner Rathaus den ganzen Tag über das neue Behindertenleistungsgesetz (BLG). Sowohl am Rednerpult als auch auf der Zuschauertribüne markierten Menschen mit Behinderung starke Präsenz.

«Die Debatte war ein grosser Moment, darauf haben wir über 10 Jahre lang gewartet! Ein Meilenstein», freut sich Priska Lanfranchi, Geschäftsführerin der Kantonalen Behindertenkonferenz Bern (kbk). Eine Mitarbeiterin der kbk ist mit einer Prüfgruppe für Leichte Sprache ins Rathaus gekommen. «Die Personen wurden zu einer Führung im Rathaus eingeladen und konnten die Debatte von der Tribüne aus mitverfolgen. Sie waren total begeistert.»

Die Debatte war ein grosser Moment, darauf haben wir über 10 Jahre lang gewartet! Ein Meilenstein

Die kbk hat sich bei der Entwicklung des Gesetzes aktiv eingebracht und sich immer wieder für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen mit Beeinträchtigung eingesetzt. Mit Erfolg: Neu sollen Menschen mit Behinderung selbst entscheiden können, ob sie Unterstützungsleistungen ambulant oder stationär beziehen wollen. Das heisst, sie müssen nicht mehr zwingend in einer Institution wohnen, um Leistungen zu beziehen, sondern können sich auch dafür entscheiden, privat zu wohnen und die dafür nötige Unterstützung mit Beiträgen vom Kanton zu finanzieren.

Eine Frau in einer blauen Jacke sitzt in einem Rollstuhl und lächelt.

Doris Läderach hat die Diskussionen im Ratssaal miterleben. © insieme Schweiz

 

Auch Doris Läderach aus Thun hat die Debatte im Grossen Rat mit Spannung mitverfolgt – allerdings nicht auf der Tribüne, denn diese ist für Personen mit Mobilitätseinschränkungen nicht zugänglich. Da die 41-Jährige auf den Rollstuhl angewiesen ist, konnte sie die Diskussionen im Ratssaal miterleben, direkt bei den Grossrätinnen und Grossräte und Regierungsrat Pierre-Alain Schnegg. «So eine Abstimmung ist nicht selbstverständlich, deshalb bin ich nach Bern gekommen, da wollte ich dabei sein», erzählt sie am Ende des Vormittags. Sie weiss um die Bedeutung dieses Gesetzes.

So eine Abstimmung ist nicht selbstverständlich, deshalb bin ich nach Bern gekommen, da wollte ich dabei sein

18 Jahre hat sie in einer Institution gelebt, seit 4 Jahren wohnt sie dank des Assistenzbeitrags der IV privat und sagt dazu: «Das fägt natürlich schon.» Sie erhofft sich vom Gesetz zusätzliche Unterstützungsbeiträge und ergänzt: «Ich hoffe, dass es in Zukunft auch für andere Menschen, die jetzt noch im Heim wohnen, möglich sein wird, dort rauszukommen, auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf.»

Eine Frau spricht an einem Pult.

Simone Leueunberger hat mit zahlreichen Voten für Verbesserungen im Gesetzesentwurf geworben. © insieme Schweiz

 

Simone Leuenberger, wissenschaftliche Mitarbeiterin Sozialpolitik bei AGILE.CH, ist seit Juni 2022 Grossrätin der Evangelischen Volkspartei (EVP). Immer wieder ist sie mit ihrem Rollstuhl ans Rednerpult gefahren und hat mit zahlreichen Voten für Verbesserungen im Gesetzesentwurf geworben. «Es hat mich sehr gefreut, dass ich als Person mit Behinderung von meiner Fraktion dafür gewählt wurde, das Geschäft im Grossen Rat zu vertreten und mitzudiskutieren», sagt sie nach der Debatte. «Eine Stimme der Betroffenen zu sein, das ist sehr schön.» Für sie war die Debatte eine einmalige Gelegenheit, im Grossen Rat so lange und ausführlich über das Thema Behinderung zu sprechen und dadurch zu sensibilisieren.

Positive Bilanz

Enttäuscht ist sie allerdings, dass es weder eine beratende Kommission noch Leistungen zum Einbezug von Menschen mit Behinderung zur Begleitung und Umsetzung des Gesetzes gibt: «Der Kanton hat offenbar nicht verstanden, was in der UNO-Behindertenrechtskonvention steht und wozu sie uns verpflichtet.» Dennoch ist Simone Leuenbergers Fazit positiv: «Der Kanton Bern ist auf einem guten Weg. Wie fortschrittlich und praxistauglich das Gesetz für Menschen mit Behinderung dann wirklich ist, wird sich bei der Umsetzung zeigen.»

 

 

Wie geht es weiter?

In der Sommersession 2023 kommt das neue Behindertenleistungsgesetz noch einmal vor den Grossen Rat und tritt voraussichtlich Anfang 2024 in Kraft.