Die ersten Schritte im Exil für zwei Familien aus der Ukraine

Autor

Susanne Schanda

Veröffentlicht am

Für Menschen mit Behinderungen ist die Flucht aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine besonders dramatisch. Ihre Bedürfnisse gehen in dieser Krisensituation allzu oft vergessen. Zwei Familien, die je ein Kind mit einer Beeinträchtigung haben, erzählen von ihrer Flucht und dem ersten Monat in einem Aufnahmezentrum im Kanton Bern.

«Wir haben überlebt, das ist die Hauptsache. Wir sind froh, dass wir da sind», sagen Oksana und Sergej, die Eltern des 7-jährigen Ivan und der 2-jährigen Katja, in der Kollektivunterkunft für Flüchtlinge bei Bern. Jetzt lebt die vierköpfige Familie in einem Zimmer der Unterkunft, bis sie eine passende Wohnung gefunden hat. Ivan, der das Wolf-Hirschhorn-Syndrom und eine Entwicklungsverzögerung hat, ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Für Ivan war die lange Flucht im Auto besonders schlimm, weil es so eng war und er sich kaum bewegen konnte, erzählt sein Vater: «Ivan wurde schnell müde und hat viel geweint. Um ihn zu beruhigen, haben wir im Auto stundenlang mit ihm gesungen.» Was dem Knaben grosse Freude bereitet, ist Musik. Wenn er auf dem Bett sitzend mit den Händen das kleine Piano berührt, lauscht er auf die entstehenden Klänge und bewegt sich im Rhythmus wie in Trance. Seine Mutter wünscht sich, dass er bald eine Musiktherapie machen kann.

 

«Unser Nachbarhaus wurde bombardiert, aber wir konnten nicht in den Schutzkeller gehen, weil Mikael seinen Rollstuhl braucht. Deshalb sind wir bei den Bombardierungen in den Gängen geblieben.»

Im selben Aufnahmezentrum leben seit einem Monat auch Marina und Edward mit ihren Kindern, dem 5 ½-jährigen Mikael und der 8-jährigen Natali, auch sie zu viert in einem Zimmer. «Wir hätten nie geglaubt, dass der Krieg bis Kiew kommt», erzählt Marina, immer noch aufgewühlt von der Flucht. «Unser Nachbarhaus wurde bombardiert, aber wir konnten nicht in den Schutzkeller gehen, weil Mikael seinen Rollstuhl braucht. Deshalb sind wir bei den Bombardierungen in den Gängen geblieben.» Die Flucht war ein Alptraum, mit Bus und Zug, Mikaels Rollstuhl ging dabei kaputt. Mikael hat Cerebralparese und braucht eine Stütze, um sich aufrecht zu halten. In Kiew besuchte er eine Sonderschule, wo er regelmässig Therapie erhielt. «Er bräuchte eigentlich ständig Physiotherapie, aber seit wir geflüchtet sind, hatten wir noch keine Möglichkeit für eine Therapie. Das ist sehr schlecht, seine motorischen Fähigkeiten haben sich bereits zurückgebildet, er hat vermehrt spastische Anfälle», sagt seine Mutter besorgt. Bald kann er die Heilpädagogische Sonderschule Aarhus bei Bern besuchen. Dort wird er auch seine dringend benötigten Therapien erhalten. Aus dem Aufenthaltsraum hören wir Mikael lachen, der auf seinem Spezialstuhl herumfährt und die Bewegung offensichtlich geniesst. Das vierrädrige Gefährt mit dem gebogenen Lenker erinnert an ein Rennvelo mit Stützrädern und hat eine Halterung, die den Oberkörper stabilisiert. Sein Vater hilft ihm, wenn er in der Kurve steckenbleibt. Wenn es schon keine Physio gibt, machen sie halt ihre eigene Bewegungstherapie.

 

Die Familie im Garten des Zentrums. Der Papa hilft Mikael, für das Foto zu stehen.

Die Flucht der Familie war ein Albtraum. Mikaels Rollstuhl ist kaputt gegangen. Er hat zerebrale Kinderlähmung und braucht eine Stütze, um stehen zu können.

Die Schuhe – ein Geschenk

Die beiden Familien konnten auf ihrer Flucht nur das Nötigste mitnehmen. Die Kinder wachsen und brauchen bald neue Kleider und Schuhe. Ivan und Mikael sind aufgrund ihrer Beeinträchtigung auf Spezialschuhe angewiesen, die ihre Füsse stabilisieren. Das ist auch ein Kostenpunkt. In der WhatsApp-Gruppe seiner Nachbarschaft hat der Berner Orthopäde Manuel Balsiger erfahren, dass zwei Kinder mit Behinderung von ukrainischen Flüchtlingsfamilien Spezialschuhe brauchen. Er hat sich gemeldet und die Familien im Aufnahmezentrum besucht. Bald stand sein Entschluss fest: Er wird für Ivan und Mikael neue Schuhe anpassen – und sie ihnen schenken. Die Freude ist gross, als er einige Wochen später mit vier Schuhschachteln bei den Familien erscheint und die Schuhe auspackt, je ein Paar aus Leder für den Sommer und den Winter mit eingebauten Spezialelementen, die verhindern sollen, dass die Füsse nach innen oder aussen abknicken. Bei Ivans alten Sandalen ragen schon die Zehen vorne heraus. Auf einem Stuhl im Garten sitzend schaut Ivan mit grossen Augen zu, wie der Orthopäde ihm seine neuen Schuhe anzieht. Mikael hat die Anprobe bereits hinter sich und kurvt mit seinen neuen Sommerschuhen auf seinem Spezialgefährt im Garten umher. Für die nächsten Schritte in ihrem neuen Leben sind die Kinder gerüstet.

Nachtrag: Einen Monat nach unserer Begegnung konnten die beiden Familien das Aufnahmezentrum verlassen und in eigene Wohnungen in der Region Bern umziehen. Und für Ivan und Mikael hat im Juni endlich die Schule begonnen.