«Der Kanton muss zur Verantwortung gezogen werden!»

Autor

Lise Tran

Veröffentlicht am

In der Romandie zeigte Ende 2023 eine von der Fachhochschule HES-SO durchgeführte Umfrage einen Mangel an qualifiziertem Personal in der sozialen Arbeit, besonders in Institutionen für Menschen mit Beeinträchtigung. Wie sehen die konkreten Herausforderungen aus? Welche Auswirkungen haben sie auf Menschen mit Behinderung und ihre Familien?

Aus Sorge über die Verschlechterung der Lebensqualität ihrer Kinder und jungen Erwachsenen, die in Institutionen leben, haben sich vor zwei Jahren zahlreiche Eltern auf Initiative von insieme Genève zusammengefunden. Die Ergebnisse der Umfrage der Fachhochschule HES-SO haben insieme Genève nicht überrascht, denn er hatte bereits Veränderungen beobachtet: «Eine hohe Fluktuation beim Betreuungspersonal, den Einsatz von temporären Mitarbeitenden, das vermehrte Einstellen von sozialpädagogischen Assistent*innen sowie fehlende Kommunikation», sagt Céline Laidevant, Geschäftsführerin des Vereins.

Der Verein stellt fest, dass es an individueller Unterstützung mangelt und dass körperliche Aktivitäten und Ausflüge seltener werden.

Ausserdem sind die Eltern immer stärker belastet : Der Verein stellt fest, dass es an individueller Unterstützung mangelt und dass körperliche Aktivitäten und Ausflüge seltener werden.

Wachsende Bedürfnisse und weniger Ressourcen

Die Vereinigung La Branche (VD) muss sich dem Mangel an qualifizierten Bewerber*innen stellen. Und dies zu einer Zeit, in der sie ihre Aufnahmekapazität erhöhen muss: «Bei den jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 20 Jahren haben mehr Personen als noch vor zehn Jahren sehr spezifische Bedürfnisse, Verhaltensauffälligkeiten, Hypersensibilität oder auch Sinnesstörungen. In die Begleitung muss auch die gesundheitliche Dimension einbezogen werden», erklärt Stéphane Delgrande, der bis März Leiter der Einrichtung war.

Stéphane Delgrande

Bei den jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 20 Jahren haben mehr Personen als noch vor zehn Jahren sehr spezifische Bedürfnisse, Verhaltensauffälligkeiten, Hypersensibilität oder auch Sinnesstörungen. In die Begleitung muss auch die gesundheitliche Dimension einbezogen werden.

Stéphane Delgrande, ehemaliger Geschäftsführer der Vereinigung La Branche

Besonders betroffen seien Institutionen mit Leistungen, die eine Betreuung rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr und unregelmässige Arbeitszeiten erfordern, erläutert er. La Branche behilft sich manchmal mit Vertretungen, bis Mitarbeitende gefunden werden, die den geforderten Qualifikationen entsprechen.

Manche Einrichtungen mussten folgenschwere Entscheidungen treffen. Dies gilt für die Institution im Kanton Waadt, in der der Sohn von Catherine Mollard lebt. Aufgrund des Personalmangels kann die Betreuung des jungen Mannes an den Wochenenden nicht mehr gewährleistet werden. «Die Nachricht, dass die Betreuung am 5. Januar enden sollte, wurde uns kurz vor Weihnachten mitgeteilt. Eine Betreuungsperson ist im Mai gegangen, eine weitere im Dezember. Unmöglich jemanden zu rekrutieren», beklagt sich die Mutter, die als Integrationsassistentin in einer Schule tätig ist.

 

Für den Sohn von Catherine Mollard ist Kontinuität wesentlich. © Patrick Gilléron-Lopreno

 

Bei der Begleitung ihres 22-jährigen Sohnes, der herausforderndes Verhalten und autistische Züge zeigt, sind Kontinuität und der Aufbau von Bindungen von entscheidender Bedeutung. Die Entscheidung, eher keine Wochenendbetreuung mehr anzubieten, als temporäre Kräfte einzustellen, versteht Catherine Mollard. Aber sie akzeptiert sie nicht: «Die Anstrengung und der persönliche Aufwand an den Wochenenden sind massiv. Der Kanton muss zur Verantwortung gezogen werden», ruft sie zwischen Verzweiflung und Wut aus.

 

Catherine Mollard

Die Anstrengung und der persönliche Aufwand an den Wochenenden sind massiv. Der Kanton muss zur Verantwortung gezogen werden

Catherine Mollard, Mutter eines Sohnes mit herausforderndem Verhalten und autistischen Zügen

Spezifische Fähigkeiten für komplexe Situationen

Augusto Cosatti, Präsident von insieme Genève, sieht sich bei den Krisen seiner 28-jährigen Tochter, die herausforderndes Verhalten zeigt, oft mit überforderten Mitarbeitenden konfrontiert. Seiner Meinung nach wäre eine 1:1-Betreuung notwendig, wenn sie «in eine Krise gerät». «Es ist wichtig, dass das Personal entsprechend ausgebildet ist. Andernfalls bringt es sich und die betreute Person in Gefahr», warnt er.

Es ist wichtig, dass das Personal entsprechend ausgebildet ist. Andernfalls bringt es sich und die betreute Person in Gefahr

Die geringere Qualifikation des Personals, die mangelnde Differenzierung bei den Berufen und die hohe Fluktuation in den Teams wirken sich auch auf die Kommunikation mit den Familien aus. So empfindet es die Mutter und Beiständin eines jungen Mannes, die sich darüber beklagt, dass sie nicht über den Weggang seiner Bezugsperson informiert wurde oder keine wöchentlichen Berichte mehr erhielt. Früher sei die Rückmeldung systematisch erfolgt.

Ich habe den Eindruck, dass sich die Menschen heute an die Betreuungspersonen, deren Lebensumstände und Aktivitäten anpassen müssen und nicht mehr umgekehrt

Seit der Covid-Zeit habe sich die Informationsweitergabe verschlechtert, sagt sie. Noch besorgniserregender ist die Beschränkung der Selbstbestimmung ihres Sohnes, insbesondere bei der partnerschaftlichen Planung der Unterstützung. Dies bedeutet, dass die betroffene Person, die Eltern, das medizinische und das begleitende Personal sich verpflichten, in die gleiche Richtung zu gehen und dabei die Ziele der Person zu respektieren. «Seit 2022 haben wir uns nicht mehr über die Ziele meines Sohnes ausgetauscht. Ich habe den Eindruck, dass sich die Menschen heute an die Betreuungspersonen, deren Lebensumstände und Aktivitäten anpassen müssen und nicht mehr umgekehrt», sagt sie.

Wie können soziale Berufe aufgewertet werden?

Gemäss insieme Genève sollten Unterrichtsmodule über geistige Behinderung und Autismus in die Grundausbildung für alle Berufe im Bereich Behinderung integriert werden. Der Verein hat mit Cerebral Genève eine Arbeitsgruppe geschaffen, in der der Kanton und Institutionen des Kantons vertreten sind.. Aber wie kann man zukünftige Kandidat*innen dafür begeistern, mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten? Etwa durch die Einladung an Akteur*innen aus dem institutionellen Bereich, während der Grundausbildung Pilotprojekte vorzustellen, meint Stéphane Delgrande. Auch die Einführung eines Pflichtpraktikums im Behindertenbereich in den Lehrplan wäre ein Anreiz: «Ich habe den Eindruck, dass die Studierenden, sobald sie diese Welt kennengelernt haben, gerne dort arbeiten möchten. Unsere grösste Herausforderung bleibt es, den Blick der Öffentlichkeit auf die Aufgabe der Begleitung von Menschen mit Behinderungen zu ändern: Sie ist interessant und nicht nur anstrengend.»•