Die lange Tradition der Separation und Selektion in der Schweiz wieder rückgängig zu machen, brauche Zeit, sagt Caroline Sahli Lozano. Sie untersucht an der Pädagogischen Hochschule Bern, welche Faktoren die Inklusion in der Schule fördern und welche sie behindern.
Die UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK), das Behindertengleichstellungsgesetz und das Sonderpädagogikkonkordat geben der schulischen Integration den Vorzug vor der Sonderschule. Doch die Kritik am integrativen Modell nimmt zu, manche bezeichnen es gar als gescheitert. Wie sehen Sie die Entwicklung?
Schul- und Unterrichtsentwicklung braucht sehr viel Zeit. Ich kenne allerdings viele Schulen, in denen es sehr gut läuft. Lernende mit leichten Beeinträchtigungen werden heute zunehmend integriert. Die Sonder- und Kleinklassen wurden in einigen Kantonen ganz abgeschafft. In anderen Kantonen dagegen können die Schulen selbst entscheiden, ob sie noch Kleinklassen führen wollen, dazu gehört auch Bern.
Sehr bedenklich ist allerdings, dass in Sonderschulen für Lernende mit schwereren kognitiven oder mehrfachen Behinderungen, die Zahl der Schüler*innen in vielen Kantonen ansteigt.
Sehr bedenklich ist allerdings, dass in Sonderschulen für Lernende mit schwereren kognitiven oder mehrfachen Behinderungen, die Zahl der Schüler*innen in vielen Kantonen ansteigt. In der Folge werden heilpädagogische Schulen aktuell ausgebaut oder neu gebaut, und dies trotz UNO-BRK und Behindertengleichstellungsgesetz. An vielen dieser Schulen steigt auch der Anteil an Lernenden mit Migrationshintergrund an.
Wie lässt sich dies erklären?
Eine Erklärung kann darin liegen, dass Sonderschulen teilweise halbprivat oder durch Stiftungen finanziert sind. Wenn dort die Nachfrage steigt, werden neue Klassen eröffnet. Dagegen sind die Ressourcen für die Integration in Regelschulen in den meisten Kantonen stark plafoniert.
Eine Erklärung kann darin liegen, dass Sonderschulen teilweise halbprivat oder durch Stiftungen finanziert sind. Wenn dort die Nachfrage steigt, werden neue Klassen eröffnet.
Wenn also die bestehenden Ressourcen in der Regelschule für eine Schülerin nicht ausreichen und die Haltung und die Umsetzung der Integration am Schulort schwierig sind, kommt die Sonderschule ins Spiel. Dort sind die Ressourcen weniger stark plafoniert, wobei bezüglich Steuerung auch hier kantonale Unterschiede bestehen. Manche Kantone setzen fest, wie hoch die Sonderschulquote sein darf, und monitoren diese auf Gemeindeebene.
Die Kantone sind unterschiedlich unterwegs. Im Tessin scheint die schulische Integration besser zu funktionieren. Woran liegt das?
Auf der interaktiven Landkarte auf der Website unseres Schwerpunktprogramms Inklusive Bildung kann man die Kantone vergleichen. Man sieht da, wo Sonderklassen abgeschafft sind und wie die Kantone die Ressourcen verteilen. Tessin hat sich an Italien orientiert, wo es seit den 1970er-Jahren keine Separation mehr gibt.
Warum funktioniert das in der Schweiz nicht besser?
Das hängt vermutlich mit der langen Tradition der Separation und Selektion zusammen. In der Schweiz wurde im Bereich der Sonderpädagogik vor rund 100 Jahren damit begonnen, ein stark separatives System aufzubauen.
1920 gab es die erste Ausbildung für Heilpädagog*innen; es war ein riesiger Fortschritt, dass überhaupt anerkannt wurde, dass es Schüler*innen mit spezifischen Bedürfnissen gibt, für die es spezifisch ausgebildete Fachpersonen braucht. Man glaubte damals stark an die Wirksamkeit dieser Homogenisierung und daran, dass wir Lernende mit ähnlichen Bedürfnissen in spezifischen Settings unterrichten. Fast 100 Jahre lang wurden die meisten Ressourcen und Kompetenzen in diese Sondersettings transferiert. Dies wieder rückgängig zu machen, braucht Zeit.
In der Schweiz wurde im Bereich der Sonderpädagogik vor rund 100 Jahren damit begonnen, ein stark separatives System aufzubauen.
Prof. Dr. Caroline Sahli Lozano, Leiterin Schwerpunktprogramm Inklusive Bildung
Plädieren Sie für eine Aufhebung der Sonderschulen?
Aufheben von heute auf morgen wie in Italien stelle ich mir in der Schweiz schwierig vor. Aber eine Plafonierung der Ressourcen bei den Sonderschulen wäre vor dem Hintergrund der UNO-BRK und des Behindertengleichstellungsgesetzes schon angebracht. Zumal wir sehen, wie dort die Anzahl der Lernenden in vielen Kantonen steigt. Wenn wir einige Ressourcen, die in die Sonderschulen fliessen, für die Integration verwenden könnten, hätten wir eine bessere Ausgangslage. Ich plädiere dafür, das bestehende Schulsystem zu unterstützen und weiterzuentwickeln statt Schüler*innen mit Problemen outzusourcen.
Woher müssten Lösungsansätze kommen?
Sie müssen auf verschiedenen Ebenen kommen. Wir in der Forschung untersuchen, was fördernde und hemmende Bedingungen sind, wo Entwicklungen vorangetrieben werden können, und wir vergleichen die Schweiz mit anderen Ländern. Damit Integration gelingt, benötigt es an den Schulen Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen wie Haltungen, Schulleitung, Zusammenarbeit, Tagesstruktur, Kompetenzen der Lehr- und Fachpersonen, die einander wechselseitig beeinflussen.
Damit Integration gelingt, benötigt es an den Schulen Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen wie Haltungen, Schulleitung, Zusammenarbeit, Tagesstruktur, Kompetenzen der Lehr- und Fachpersonen, die einander wechselseitig beeinflussen.
In gewissen Ländern, etwa in Australien oder Deutschland, kommen viele Anstösse von den Eltern oder den Betroffenen selbst, die sich gemeinsam und sichtbar für ihre Rechte starkmachen. In der Schweiz sehe ich im Schulkontext seltener solch grosse Bewegungen und explizite Forderungen von Selbstbetroffenen. Dies liegt womöglich unter anderem auch daran, dass die Sonderschulen hier sehr attraktiv sind und für die betroffenen Familien einen sicheren Wert darstellen.