Nein, die inklusive Schule ist nicht “gescheitert“

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Themen- und Projektverantwortlicher insieme Schweiz

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An ihrer Delegiertenversammlung vom 22. Juni 2024 hat die FDP ein Positionspapier verabschiedet, das die inklusive Schule abschaffen will.

Die Partei nennt rund 15 «Handlungsfelder», um die Schule «gerecht und zukunftsgerichtet» zu gestalten. Für insieme Schweiz ist dieses Positionspapier inakzeptabel. Vor allem, wenn man sieht, welche Überlegungen den Vorschlägen des FDP-Präsidenten Thierry Burkart zugrunde liegen. Die umfangreiche Berichterstattung der Schweizer Medien in der vergangenen Woche zeigt, wie wenig reflektiert seine Haltung ist. Die Argumentation basiert offensichtlich auf Unkenntnis der Materie. insieme Schweiz sieht es deshalb als seine Aufgabe, die Aussagen richtigzustellen:

 

Die inklusive Schule ist gescheitert

Die Umsetzung der inklusiven Schule basiert auf verbindlichen Bestimmungen des internationalen Rechts (Art. 24 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen) und der nationalen Gesetzgebung (Art. 8 der Verfassung und Art. 20 des Gesetzes über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen). Die Priorität einer inklusiven Beschulung gegenüber einer separativen Beschulung wurde zudem häufig vom Bundesgericht bestätigt. Die Kantone sind daher verpflichtet, die schulische Inklusion von Schülern mit Behinderungen zu fördern und Modelle für deren Umsetzung zu entwickeln.

Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass die schulische Inklusion in der Schweiz funktioniert. So hat der Kanton Tessin seit 2010 flächendeckend inklusive Klassen in der Primarstufe eingeführt, ohne dass dies negative Auswirkungen auf das Schulsystem hat. Bei den PISA -Tests schneiden die Tessiner Schülerinnen und Schüler im Durchschnitt sogar besser ab als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler in der übrigen Schweiz.

Weiteres Beispiel ist die Klasse 6P im Kanton Waadt, wo auf Co-Teaching gesetzt wird. Oder die Schule in Bürglen (TG), in der der gesamte Grundschulunterricht, einschliesslich der räumlichen Organisation der Klassenzimmer, auf Inklusion umgestellt wurde.

Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass die schulische Inklusion in der Schweiz funktioniert. © insieme Schweiz / Antoine Tardy

Die Mehrheit der Lehrer teilt diese Ansicht

Die schulische Inklusion kann der Lehrerschaft in der Praxis Schwierigkeiten bereiten. Auf der Grundlage einer Studie, die einen einzigen Kanton berücksichtigt, zu behaupten, dass die Mehrheit der Lehrer*innen die inklusive Schule abschaffen möchte, ist jedoch falsch. Im Januar 2023 hat der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH ein Positionspapier verabschiedet, welches sich klar für die schulische Inklusion ausspricht.

 

Die stärkeren Schüler bleiben auf der Strecke

Die Forschung widerlegt diesen Irrglauben, der aus Angst oder Unwissenheit oftmals in den Vordergrund gestellt wird. Die «stärkeren Schüler» machen die gleichen Fortschritte, unabhängig davon, ob sie Teil einer inklusiven Klasse sind oder nicht.

 

Wichtig ist, dass die Kinder Selbstvertrauen aufbauen können

Die Inklusion fördert die schulischen Fähigkeiten von Kindern mit und ohne Behinderungen. Studien unterstreichen die Vorteile für die Entwicklung der Kinder und die Stärkung von Fähigkeiten, die für den sozialen Zusammenhalt von grundlegender Bedeutung sind, wie Altruismus und Empathie. Die Entwicklung dieser Fähigkeiten hat zweifellos einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Kinder und ihr Selbstvertrauen.

 

Auch mit mehr Mitteln hätten wir die Ziele nicht erreicht

Die Politik, einschließlich der FDP, hat nicht die Mittel bereitgestellt, die es für ein Gelingen der inklusiven Schule benötigt. Eine deutliche und dringende Erhöhung der finanziellen Mittel für die inklusive Schule ist notwendig, um neue Stellen für Fachkräfte zu schaffen. Fehlende finanzielle Ressourcen bei den Schulen sind der Kern des Problems. Ebenso wie mangelhafte Unterstützung, die Lehrkräfte und alle an der inklusiven Beschulung beteiligten Fachkräfte erfahren. Die Übertragung von Budgets von der separativen Beschulung zugunsten der Inklusion in Regelschulen ist zweifellos ein Erfolgsfaktor für Letzteres.

 

Im Jahr 2024 darf die schulische Inklusion nicht länger nur ein bildungspolitisches Modell sein, das je nach persönlicher Überzeugung befürwortet oder abgelehnt wird. Und es sollte nicht im Rahmen von Politkampagnen über deren Finanzierung gestritten werden. Zehn Jahre nach der Ratifizierung des Übereinkommens der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) durch die Schweiz sollte die schulische Inklusion unbestrittene Tatsache sein. Ja, die Umsetzung der inklusiven Schule erfordert finanzielle und personelle Ressourcen. Aber sie darf nicht auf morgen verschoben werden: Die Mittel müssen heute bereitgestellt werden.