Inklusives Co-Teaching als Zukunftsversprechen

Autor

Lise Tran

Veröffentlicht am

Zwei junge Lehrerinnen im Kanton Waadt teilen sich eine Klasse, in der zehn Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf integriert sind. Dieser integrative Ansatz in einer Regelschule ermöglicht ihnen ein Unterrichten, das sich diesem Bedarf anpasst und mehr Aufmerksamkeit erlaubt. Zugleich werden in der Klasse selbst Werte entwickelt wie das Akzeptieren der Differenz.

Zahlen vergleichen und ihre verschiedenen Bestandteile unterscheiden zu können, damit beschäftigen sich die rund 30 Schülerinnen und Schüler der Klasse 6P des Collège des Alpes in Pully. Das Besondere dieser Klasse? Sie integriert zehn Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten und herausforderndem Verhalten. Und dies dank dem Modell des gemeinsamen Unterrichtens durch Jessica Müller und Manon Vuffray. «Johann, leg bitte deine Flugzeuge auf die Seite», mahnt Manon Vuffray, die neben dem Unterrichten noch ein Masterstudium an der Pädagogischen Hochschule des Kantons Waadt absolviert. Im Zweierteam trägt sie die Kappe der Sonderschullehrerin.

Manon Vuffray, Sonderschullehrerin im Unterrichtsprojekt mit doppelter Leitung, schaut zusammen mit einem Schüler der Klasse 6P des Collège ­des Alpes in Pully eine Übung durch. © Antoine Tardy

Sie geht durch die Pult­reihen und erklärt den Schüler*innen, die es brauchen, die Anweisungen der Übungen noch einmal. Einige haben die Aufgaben bereits gelöst. Um sie korrigieren zu lassen, stellen sie sich am vorderen Schreibtisch der «anderen Lehrerin», der Regellehrerin, an. «Ich habe meinen Schreibtisch hinten im Klassenzimmer, um einen besseren Überblick über die Klasse zu haben. So kann ich besser auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen», erklärt Manon Vuffray bezüglich des Unterrichtsprojekts mit doppelter Leitung. Sie war zuvor Lehrerin in der Trampolin-Klasse an derselben Schule und hat dieses Projekt ins Leben gerufen: «Diese Klasse war sehr schwer allein zu führen. Es gab vier bis sechs Schüler*innen unterschiedlichen Alters mit Verhaltens- und Lernschwierigkeiten, teilweise mit einem sehr niedrigen IQ. Es war eine stigmatisierte Klasse geworden.»

Die im Schuljahr 2022 eingeführte Einrichtung des Co-Teaching wurde in diesem Jahr fortgesetzt, «dank den schönen Entwicklungen im Bereich des Lernens und der Sozialisierung der Kinder.

Die im Schuljahr 2022 eingeführte Einrichtung des Co-Teaching wurde in diesem Jahr fortgesetzt, «dank den schönen Entwicklungen im Bereich des Lernens und der Sozialisierung der Kinder». Manche Eltern von Kindern ohne Beeinträchtigungen sind besorgt, dass das Lernprogramm in Rückstand gerate. Aber auch über den Lärm, den die Klasse mit 27 Schüler*innen verursacht, fünf mehr als in einer normalen Klasse. «Wir mussten sie beruhigen und ihnen erklären, wie die Klasse funktioniert. Zum Beispiel bieten wir Kindern, denen das Lernen leichter fällt, komplexere Lernmethoden an.»

Zum Beispiel bieten wir Kindern, denen das Lernen leichter fällt, komplexere Lernmethoden an.

Um die Lärmbelästigung in Grenzen zu halten, stecken die Lehrerinnen einen klaren Rahmen und stellen höhere Anforderungen. Es dauerte eine Weile, bis sich das Zweierteam in der Klassenführung und der Arbeitsweise zurechtfand. Aber seit Mitte des letzten Jahres «ist es das reinste Glück», sagt Manon Vuffray begeistert

Und was sagen die Kinder dazu?

Klea, die in ihre Karteikarten vertieft ist, unterbricht ihre Arbeit: «Es ist gut, Kinder mit Schwierigkeiten in der Klasse zu haben. Wenn ich meine Übung beendet habe, kann ich ihnen helfen. Ansonsten spiele ich auch in der Pause mit ihnen.»

Klea ist in ihre Karteikarten vertieft. © Antoine Tardy

Als die Übungen am Pult von einer Zeit freier Aktivitäten abgelöst werden, beschliesst eine Gruppe von vier Mädchen, sich ausserhalb des Klassenzimmers zu treffen, «ohne die Buben, da ist es ruhiger». Für sie ist die Präsenz von zwei  Lehrerinnen von Vorteil, da sie sich so «besser um uns kümmern können», sagen sie, während sie zeichnen. «Sie hilft dir bei Tests und Diktaten», sagt Isra zu ihrer Mitschülerin Hanna, deren Lernschwierigkeiten «kein Grund sind, nicht befreundet zu sein». Für Diana hat die Tatsache, dass sie zwei Lehrerinnen hat, auch Auswirkungen auf die Einstellung der Schüler*innen: «Früher hat sich einer unserer Mitschüler in der anderen Klasse nicht so gut benommen, jetzt ist es besser.»

Unterschiede zu akzeptieren sowie die Entwicklung von Respekt und Toleranz, stehen im Mittelpunkt dieses Projekts.

Warum sind die iPad-Pausen nicht für alle gleich lang? Warum wird ein Kind, das den Stinkefinger zeigt, nicht genauso bestraft wie ein anders, das keine besonderen Probleme hat?

Warum wird ein Kind, das den Stinkefinger zeigt, nicht genauso bestraft wie ein anders, das keine besonderen Probleme hat?

Diese Fragen bedürfen der Diskussion: «Man muss die Unterschiede erklären. Wenn ein Kind eine unangemessene Geste macht, braucht es wahrscheinlich mehr Aufmerksamkeit. Durch solche Momente können sie sich in die Lage des anderen versetzen und verstehen, dass jedes Kind andere Bedürfnisse hat», erklärt die Sonderpädagogin.

Stunden, in denen die verschiedenen Besonderheiten und Behinderungen der Schüler*innen erklärt werden, stehen nicht offiziell auf dem Lehrplan. «Wir nehmen uns die Zeit dafür», sagt die Lehrerin.Ein Programm, zahlreiche Adaptionen

 

«Aufstehen, bitte!», ruft Jessica Müller auf Deutsch. Die Urnerin steht vor der Klasse. Alle befolgen die Aufforderung und beginnen die Wörter aus der Videoprojektion nachzusprechen und die Bewegungen der Figuren nachzumachen: «Und ich flieg, flieg, flieg wie ein Flieger. Bin so stark, stark, stark wie ein Tiger…» Wenn alle Schüler*innen das gleiche Programm absolvieren, werden die Aktivitäten je nach Bedarf angepasst.

Wenn alle Schüler*innen das gleiche Programm absolvieren, werden die Aktivitäten je nach Bedarf angepasst.

Dies ist auch bei Übungen zum Lesen und Verstehen von Texten der Fall, bei denen einige Kinder eine vereinfachte Version erhalten. «Ich habe ein Jahr lang allein in einer Regelklasse unterrichtet, bevor ich mich diesem Projekt angeschlossen habe. Dabei sah ich, dass ich nicht allen helfen konnte», sagt Jessica Müller. Bisher gibt es in der Klasse keine Schüler*innen mit einer diagnostizierten geistigen Behinderung. «Das hat sich so ergeben. Aber das könnte sich eines Tages ändern. Das würde sicher eine andere Herausforderung darstellen und mehr Ressourcen brauchen», unterstreicht die Sonderpädagogin.