Menschen mit und ohne Behinderung lernen gemeinsames im gleichen Kurs – das ist Ziel und Zweck eines Pilotprojekts von ERWO+, einem Verein, der barrierefreie Erwachsenenbildung im Oberwallis fördert.
Acht Personen mit und ohne Beeinträchtigung sitzen im Kreis. Sie kennen sich bereits, denn es ist der vierte von sechs Kursabenden zum Thema «Konflikte lösen». Das Thema des Abends lautet: «Was passiert, wenn ein Streit sich ausbreitet und immer grösser wird? Und wie können wir eine solche Ausbreitung bremsen?»
Mir ging es damals nicht so gut, ich war gereizt und habe nicht gut reagiert. Das hat mich nachher noch beschäftigt. Eine Woche später habe ich mich dann bei ihr entschuldigt.
Bevor die Kursleiterin Sabine Forny auch nur das weitere Vorgehen erklären kann, beginnt eine Kursteilnehmerin spontan, von einer Diskussion zu erzählen, die sie mit einer Betreuerin hatte: «Mir ging es damals nicht so gut, ich war gereizt und habe nicht gut reagiert. Das hat mich nachher noch beschäftigt. Eine Woche später habe ich mich dann bei ihr entschuldigt.»
Spielen, wie ein Konflikt eskaliert
Die Kursleiterin erklärt: «Konflikte können immer schlimmer werden oder sich auflösen, und wir können das beeinflussen.» Sabine Forny schlägt vor, drei Gruppen zu bilden und pantomimisch darzustellen, wie ein Streit eskaliert und dann wieder deeskaliert. Vergnügt verteilen sich die Gruppen im Raum, neugierig schaut man sich in der Gruppe an, bis einer eine Bewegung macht.
«Konflikte können immer schlimmer werden oder sich auflösen, und wir können das beeinflussen.»
Sabine Forny, Kursleiterin
Die anderen machen das Gleiche oder etwas Anderes, man berät sich kurz und probiert die nächste Bewegung oder Körperhaltung oder einen anderen Gesichtsausdruck aus. Alle sind konzentriert und engagiert bei der Sache.
Die Teilnehmenden erfahren sich in dieser Übung als Handelnde in einer Situation, die sie früher vielleicht passiv erlebt haben, mit Ohnmachtsgefühlen.
Schliesslich versammeln sich die Gruppen wieder und spielen einander ihre «Theaterstücke» vor. Die Teilnehmenden erfahren sich in dieser Übung als Handelnde in einer Situation, die sie früher vielleicht passiv erlebt haben, mit Ohnmachtsgefühlen. Beim Beobachten der anderen Gruppen sehen sie weitere Möglichkeiten, wie man einen Streit eskalieren und deeskalieren kann. Und es macht Spass, jede Gruppe wird von den anderen beklatscht.
Die Kursleiterin lässt eine Geschichte vorlesen, die zeigen soll, dass der langsame und bedächtige Weg oft der bessere ist. Ob diese Botschaft bei allen ankommt, ist nicht sicher. Der hochdeutsche Text verlangt eine gewisse Abstraktionsfähigkeit. Bei der anschliessenden Feedback-Runde sind sich alle einig darüber, was das Beste an diesem Abend war: Theaterspielen!
Neues lernen macht Spass
Die 66-jährige Ida Gattlen arbeitet im Schlosshotel Leuk und findet es gut, dass in diesem Kurs Menschen mit und ohne Behinderung dabei sind: «Der Kurs ist für alle gut. Hier kann man alles sagen, was einem nicht passt, und alle hören einem zu.» Wenn sie in Situationen gerate, in denen sie sich nicht wehren könne, werde sie wütend, erzählt sie. Sie hat aber bereits gelernt, wie sie eine solche Situation deeskalieren kann: «Drei Mal tief Luft holen, die Hände verschränken und umherlaufen, das beruhigt mich.»
Adrian Holzer hat vorher bereits verschiedene Kurse besucht: «Ich lerne gerne neue Sachen», sagt der 51-Jährige, der in einer Nachbargemeinde in einer Männer-WG wohnt und selbstständig mit dem Postauto zum Kurs in Visp fährt.
«Ich interessiere mich für Politik, verfolge die Wahlen immer genau. Als die neue Gemeindepräsidentin gewählt wurde, da hatte ich auch gewählt.» Der Kurs «Konflikte lösen» ist einer von fünf inklusiven Bildungskursen des Pilotprojekts von ERWO+ im Oberwallis. Initiantin und Geschäftsführerin des Vereins ist die Sozialpädagogin Anita Heinzmann: «Es gibt in unserer Region zu wenige barrierefreie Angebote in der Erwachsenenbildung, und wir wollten ein inklusives Angebot für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung schaffen, denn alle können voneinander lernen.»
Es gibt in unserer Region zu wenige barrierefreie Angebote in der Erwachsenenbildung, und wir wollten ein inklusives Angebot für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung schaffen, denn alle können voneinander lernen.
Das bestätigt Adrian Andres, in diesem Kurs der einzige Teilnehmer ohne Beeinträchtigung: «Ich habe im Alltag wenige Schnittstellen mit Menschen mit Beeinträchtigung. Dieser Kurs ermöglicht mir Begegnungen mit Menschen, die langsamer unterwegs sind als andere. Man muss sich einlassen auf diese Langsamkeit, oft ergeben sich dadurch neue Wege.» Er würde diesen Kurs auch anderen weiterempfehlen: «Aber man muss offen sein für die Vielfalt und neue Erfahrungen.»
ERWO+
ERWO+ arbeitet mit den Gemeinden Leuk und Naters zusammen, die die Kurse in ihrem Programm ausschreiben, die Administration übernehmen und Kursräume zur Verfügung stellen; ausserdem mit privaten Bildungsanbietern wie der Erwachsenenbildnerin Sabine Forny von Forny Mediation und dem Tanzatelier Artichoc in Brig. Weitere Partner sind die Nachbarschaftshilfe «D’Nischa» und der Transportservice «Kleeblatt» des Roten Kreuzes. Finanzpartner sind Stiftungen, der Kanton Wallis und die Loterie Romande. Im Januar 2022 wird das Pilotprojekt evaluiert. Dann werde ein Konzept für einen dauerhaften Kursbetrieb erarbeitet, sagt Anita Heinzmann.