Zuhause im Kreis der Familie – Tag und Nacht

Autor

Susanne Schanda

Veröffentlicht am

Betreuende Eltern organisieren ihren Alltag nach den Bedürfnissen ihrer Tochter oder ihres Sohnes mit Behinderung. Selbst wenn sie auf einen Assistenzbeitrag und Entlastungsdienste zählen können – sie leisten Enormes. Wir haben eine Grossfamilie auf ihrem Bauernhof in Goldau und eine Kleinfamilie in der Nähe des Zugerbergs besucht.

 Die schmale Strasse schlängelt sich vom Bahnhof Arth-Goldau durch satte Matten zum Bauernhof der Familie Mettler. Luzia Holdener vom Entlastungsdienst «Zyt ha» von insieme Innerschwyz hilft Helena Mettler dabei, dem 21-jährigen Marcel einen Schutzhelm aufzusetzen, und geht mit ihm spazieren. Sie stützt ihn, zusammen gehen sie langsam die Strasse hinauf. Hinter dem Haus setzt er sich auf eine Liege und überlässt ihr den Fuss für die Massage.

Luzia Holdener kommt nur einmal in der Woche für zwei Stunden zu Mettlers. Die übrige Zeit kümmert sich die Grossfamilie um den Sohn, der seit einer Impfschädigung im Alter von drei Jahren geistig behindert ist. Von den 16 Kindern ist das jüngste 11, der älteste Sohn 34 Jahre alt. Zwölf von ihnen wohnen noch zuhause. Helena Mettler ist Hausfrau und erledigt daneben die Buchhaltung für den Bauernhof. «Mein wichtigster Auftrag ist die Betreuung von Marcel. Manchmal löst mich mein Mann oder eines der Kinder ab und ich gehe dafür zwei Stunden Kirschen pflücken oder heuen», sagt sie. Die Behinderung ihres Sohnes habe ihr lange Mühe gemacht. Schliesslich habe sie sie akzeptieren können und spüre auch die Bereicherung. «Ich habe durch ihn gelernt, innezuhalten in der täglichen Betriebsamkeit.»

«Mein wichtigster Auftrag ist die Betreuung von Marcel. Manchmal löst mich mein Mann oder eines der Kinder ab.»

Marcel hat nie eine Schule in einer Institution besucht, sondern wurde von Heilpädagoginnen zuhause unterrichtet. Daneben agierten gelegentlich auch zwei seiner Schwestern als Lehrerinnen. «Sie imitierten die Heilpädagogin, läuteten an der Türe und kamen mit einer Schulmappe in die Stube zu Marcel», erzählt Helena Mettler. Die Geschwister kümmern sich auf unterschiedliche Weise um ihren Bruder. Maria badet und rasiert ihn, wenn sie nach Hause kommt, eine andere Schwester kocht ihm etwas Besonderes. Sein Zwillingsbruder Martin hat ein besonderes Verhältnis zu Marcel, er sei wie ein Anwalt seines Bruders, der ihn auch in schwierigen Situationen, etwa in der Pubertät, verteidigt hat.

Der Alltag bei Mettlers folgt einem klaren Stundenplan. Morgens um 7 Uhr schaut die Mutter bei Marcel ins Zimmer. Wenn er schon wach ist, steht er auf und folgt ihr in die Küche. Dort hilft sie ihm auf seinen Stuhl, fixiert ihn und gibt ihm seine Ovo zu trinken. Nach dem Frühstück geht er entweder wieder ins Bett oder begleitet seine Mutter, die den Haushalt macht. «Das Kochen ist eine echte Herausforderung. Wenn es schon gut riecht und er noch nichts anfassen darf. Er wartet gar nicht gern. Ich muss immer aufpassen, dass er nicht zu nah an den Herd kommt und sich an den heissen Pfannen verbrennt.» Um 14 Uhr steht ein Spaziergang auf dem Plan, nicht weit, ums Haus herum oder in den Stall die Tiere ansehen. Um 15 Uhr erhält er seine Ovo in der Flasche, aus der er selbständig trinken kann.

Um 16.30 richtet sie Marcel das Zvieri, Brot, Butter und Konfitüre. Dann kommen die Kinder nach Hause und machen Betrieb, was er sehr geniesse. Um 19.30 gibt es Znacht für die ganze Familie, wobei Marcel besonders die Nähe des Vaters suche. Abends sitzen alle zusammen in der Stube, spielen oder unterhalten sich. Fernseher gibt es keinen. «Das würde unser Familienleben stören», sagt Helena Mettler. Gegen 21.45 beginnt mit Wickeln, Zähneputzen und Pyjama Anziehen das Ritual zum Ende des Tages. Helena und ihr Mann Alois Mettler kommen bald ins Pensionsalter. Den Bauernhof wird der älteste Sohn übernehmen. Und die Betreuung von Marcel? «Das erwarten wir von keinem der Kinder. Wir machen es, solange wir eben können, danach müssen wir ihn wohl in ein Heim geben», sagt seine Mutter.

24 Stunden Präsenz, täglich, ein Leben lang

Ein junges Mädchen sitzt in einem Rollstuhl. Ihre Mutter lehnt sich zu ihr.Ein junges Mädchen sitzt in einem Rollstuhl. Ihre Mutter lehnt sich zu ihr.
Julia mit ihrer Mutter Melanie Della Rossa. Foto: Vera Markus, kpf

Für die Familie Della Rossa in Zug beginnt der Tag, wenn andere noch schlafen. Manchmal wacht die 11-jährige Julia schon um 3 Uhr auf, ihr fehlt aufgrund ihrer Behinderung das Schlaf-Hormon. Keine Nacht gleicht der andern im Mehrfamilienhaus in der Nähe des Zugerbergs. Melanie Della Rossa hilft Julia aus dem Bett, wäscht und wickelt sie, zieht sie an und führt sie an der Hand die Treppe hinunter in die Küche. Dort setzt sie Julia in den Therapiestuhl und fixiert sie, damit sie nicht gleich wieder aufsteht. Die Mutter gibt ihr das Frühstück, putzt ihr die Zähne und setzt sie aufs WC. «Obwohl Julia 24 Stunden am Tag Windeln trägt, machen wir zusätzlich WC-Training.» Das Mädchen ist hyperaktiv und kennt keine Gefahren, hat Absenzen und epileptische Anfälle, weshalb es ständig überwacht werden muss. Diagnose: Angelman-Syndrom und Cerebralparese.

Sie kann nicht sprechen und kommuniziert deshalb mit Fotos und Symbolen auf einem Talker, kann aber nicht mitteilen, wenn sie Schmerzen hat oder ihr jemand unrecht tat. «Wenn sie weint, können wir nur rätseln und vermuten, was der Grund sein könnte. Das belastet sehr», sagt Melanie Della Rossa. Zum Glück wohnen ihre Eltern und ihre Schwester im selben Haus und haben sie von Anfang an unterstützt. Mit ihrem Mann wechselt sie sich am Wochenende in der Betreuung ab. «Wir sind stark als Team, unterstützen uns gegenseitig und spüren, wenn der andere nicht mehr kann. Julia bestimmt unser Leben als Familie. Es bedeutet 24 Stunden am Tag Präsenz, lebenslang», sagt die Mutter. Einer regelmässigen Erwerbstätigkeit kann sie nicht nachgehen, nicht einmal im Teilpensum. Wann immer sie Zeit hat, schreibt sie. «Das ist für mich meine Therapie.» 2011 berichtete sie auf der Homepage juliadellarossa.ch erstmals öffentlich über ihre Erfahrungen als betreuende Mutter. 2013 gründete sie den Angelman-Verein, den sie seither als Präsidentin führt. Vor zwei Jahren startete sie den Blog: www.facebook.com/JuliaderWeg. «Ich schreibe auch über schwierige Situationen ehrlich, ohne zu beschönigen. Das gibt anderen Eltern Kraft.»

«Wir sind stark als Team, unterstützen uns gegenseitig und spüren, wenn der andere nicht mehr kann.»

Die Umwelt reagiert positiv und nimmt Anteil. Julia geht an viereinhalb Tagen in der Woche in die Heilpädagogische Schule. «Das gibt mir etwas Luft, um für unseren Sohn da zu sein, meine sozialen Kontakte zu pflegen und den Haushalt und die anfallenden Büroarbeiten zu erledigen», sagt Melanie Della Rossa. Ende 2017 erschien ihr Buch über die ersten zehn Jahre im Leben Julias mit dem Titel «Ohne Liebe ist es nicht zu schaffen!». Dank dem Assistenzbeitrag kann die Familie heute tageweise oder für die Entlastung am Wochenende Betreuungspersonen anstellen. Meist Studentinnen, die soziale Berufe ergreifen wollen. «Eine Assistentin brauche ich, wenn ich mit Julia zum Arzt muss, als Begleitung für die Hippotherapie, für die Freizeitgestaltung für Julia in den Ferien oder wenn ich mal krank bin.» Abends braucht es zwei Personen, um Julia zu baden und gegen 21 Uhr «bettfertig» zu machen. Gegen 22.30 kehrt an guten Tagen Ruhe ein für ein paar Stunden. Da jede Nacht anders ist, weiss man nie, für wie lange. Melanie Della Rossa schätzt die familiäre und professionelle Unterstützung, jedoch: «Zu wissen, dass es sehr schwierig ist, Julias Betreuung 24 Stunden abzudecken bei einem Ausfall meinerseits, bringt mich oft an die Grenzen.»

Dieser Artikel stammt aus dem im September 2018 veröffentlichten insieme Magazin.