Am 17. August 2023 trafen sich mehrere Personen mit kognitiver Beeinträchtigung im Bundeshaus mit Persönlichkeiten aus der Politik zum Interview. Im Rahmen der insieme-Kampagne #IchWähle werden diese Gespräche ab Mitte September auf den Social Media verbreitet. Reportage von den Dreharbeiten.
Pierre Weber ist aus Lausanne angereist. Zugfahren ist seine grosse Leidenschaft: Gerne steigt er mit seinem Generalabonnement in einen Zug und fährt los, um in den Bergen zu spazieren. Aber heute geht es nicht ums Wandern, sondern um Politik. Der Selbstvertreter und Vorstandsmitglied von ASA Handicap mental erwartet uns um 8 Uhr 45 vor dem Bundeshaus, wo die Begegnung stattfinden soll. Stresst ihn die Vorstellung, dass er gleich die Nationalrätin Jacqueline de Quattro, die für ihre Wiederwahl kandidiert, interviewen soll? Nicht wirklich.
Vor einer Woche hatte Pierre Weber die Gelegenheit, sich an einem Workshop von insieme mental auf dieses Gespräch vorzubereiten. Dort konnte er sich auch Fragen überlegen, die er der Nationalrätin stellen wollte. Insgesamt haben sechs Persönlichkeiten aus der Politik die Einladung von insieme angenommen, von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung interviewt zu werden.
Diese Aktion ist Teil der insieme-Kampagne #IchWähle, mit der die Öffentlichkeit für die politische Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung sensibilisiert werden soll.
Am Drehtag Mitte August spürt man die Hitze auch im Bundeshaus. Als erstes wird Pierre Weber etwas geschminkt, so dass sein Gesicht vor der Kamera nicht glänzt.
Ich bin Jacqueline, ist das in Ordnung so?
Dann haben wir bei einem Kaffee noch etwas Zeit, um die Fragen durchzugehen, die er Jacqueline de Quattro stellen will. «Ich bin Jacqueline, ist das in Ordnung so?», fragt die Parlamentarierin ihren Gesprächspartner gleich beim Betreten des Journalistenzimmers im Bundeshaus. Dieser antwortet sofort: «Ich bin Pierre.» Nun kann der Dreh beginnen.
«Dann habe ich die Institution verlassen. Das ist fast 40 Jahre her, dass ich draussen bin. Mein Ziel ist frei zu sein», erklärt Pierre auf berührende Weise vor der Kamera. Das Gespräch zwischen dem Selbstvertreter und der Nationalrätin läuft flüssig. Sie gehören der gleichen Generation an und sind beide aus der Waadt.
Aufhebung der Beistandschaft, Diskriminierung, Wahlrecht: die Themen, die Pierre Weber angeht, werden im Verlauf des Gesprächs immer politischer. Schliesslich reicht eine Stunde für das Gespräch nicht, und die beiden sprechen anschliessend im Grand Café der Galerie des Alpes gleich nebenan weiter.
«Dann habe ich die Institution verlassen. Das ist fast 40 Jahre her, dass ich draussen bin. Mein Ziel ist frei zu sein»
Pierre Weber, Protagonist der #IchWähle Kampagne
Als nächstes betreten Olivier Marti und Elisabeth Baume-Schneider das Journalistenzimmer. Es ist übrigens nicht ihre erste Begegnung. Der Zufall wollte es, dass sich die beiden an einer Veranstaltung der Sozialdemokratischen Partei über den Weg liefen. Olivier Marti, der in der Gastronomie arbeitet, hatte dort Gelegenheit, die Bundesrätin, die wie er aus dem Kanton Jura kommt, zu bedienen.
«Sie haben mich bereits zweimal gesehen, würden Sie sagen, dass ich eine Behinderung habe?», fragt der junge Mann. Dieser Austausch ist etwas formeller als der vorangehende. Dennoch gibt es auch hier Raum für überraschende Momente, etwa als die Bundesrätin ihren Gesprächspartner fragt, ob er schon daran gedacht habe, sich für ein politisches Amt aufstellen zu lassen. Am Ende des Drehs posieren wir für ein Selfie.
Dann hängt Olivier Marti noch ein Gespräch mit einem Journalisten von Le Temps an. «Uns ausdrücken zu können und unsere Bedürfnisse auszusprechen, das ist eine Tür, die sich geöffnet hat», erklärt er der Tageszeitung die insieme-Kampagne #IchWähle.
Uns ausdrücken zu können und unsere Bedürfnisse auszusprechen, das ist eine Tür, die sich geöffnet hat
Olivier Marti, Protagonist der #IchWähle Kampagne
Auf Olivier Marti folgt Sabrina Gaetani, die an einem geschützten Arbeitsplatz im Kanton Solothurn arbeitet, für ein Gespräch mit der Bundesrätin. Als diese sie nach ihrem Lohn fragt, antwortet Sabrina Gaetani auf Berndeutsch: «Etwa 4 Franken in der Stunde. Die Löhne an geschützten Arbeitsplätzen sind extrem tief.»
Den Gesprächsmarathon beschliessen am späten Nachmittag Suad Dahir Ahmed aus Zürich und der Bündner Nationalratspräsident Martin Candinas, der im März die erste Behindertensession initiiert hat. Die junge Frau erklärt ihm, dass sie sich gerne für ihre Anliegen in der Politik einsetzen würde und fragt ihn, wie sie das am besten angehen solle. Er rät ihr, damit auf Gemeindeebene anzufangen und bietet dann an, extra für sie eine kurze Führung durchs Bundeshaus zu machen, was sie begeistert annimmt.
Insgesamt haben sich sechs Personen mit einer kognitiven Beeinträchtigung mit ebenso vielen Personen aus der Politik fast eine Stunde lang unterhalten. Die «besten» Teile dieser Gespräche werden anschliessend ausgewählt und ab Mitte September auf den Social Media verbreitet.