Menschen mit geistiger Behinderung brauchen Unterstützung – manche mehr, manche weniger. Oft wird über sie und für sie gesprochen. Bei ihnen werden seit einiger Zeit Stimmen laut, die sich nicht länger bloss vertreten lassen, sondern selbst für sich und ihre Anliegen einstehen wollen.
Menschen mit geistiger Behinderung wollen sich Gehör verschaffen – in ihren Familien, im Freundeskreis, in der Schule und am Arbeitsplatz. Manche nennen sich Selbstvertreter. Ein irritierender Begriff, doch er deutet an, dass Menschen mit geistiger Behinderung in den meisten Fällen durch andere vertreten werden: durch ihre Eltern, Geschwister, Beistände und Betreuungspersonen in Institutionen. Sich selbst zu vertreten oder für die Anliegen von Gleichgesinnten einzustehen, das klingt schön und sagt sich leicht. Doch das will gelernt sein – nicht nur das Sprechen, sondern zuerst muss man einmal sich selbst darüber klar werden, was man überhaupt braucht und will.
Erster Schritt zur Selbstvertretung
Um diese Kompetenzen zu fördern, hat insieme Schweiz 2017 das Projekt «insieme inklusiv» gestartet als «ersten Schritt hin zur Selbstvertretung», wie Projektleiter Jan Habegger erklärt. Interessierte insieme-Vereine werden darin unterstützt, Möglichkeiten anzubieten, damit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung lernen können, ihre Anliegen, Wünsche und Bedürfnisse zu kennen und zu kommunizieren.
«Die Fähigkeiten lernen sie durch Learning-by-doing, und insieme offeriert ihnen den Raum, wo ihre Stimme gehört wird», sagt Jan Habegger weiter. So soll bis zum Abschluss des Projekts Ende 2021 eine Bewegung entstehen, die sich für die Teilhabe von Menschen mit einer geistigen Behinderung und die Notwendigkeit von mehr Selbstvertretern einsetzt.
insieme Aarau-Lenzburg hat eine solche Arbeitsgruppe «insieme inklusiv» aufgebaut. 2018 hat die Gruppe, unterstützt von einem Moderator, nicht nur das Bundeshaus besucht, sondern dort an einer Sitzung mit Nationalräten ihre Anliegen vorgebracht und ist dabei auf offene Ohren gestossen. Die Mitglieder dieser Gruppe vertreten nicht nur sich selbst, sondern generell Anliegen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie stellen politische Ansprüche an die Gesellschaft. Das wirkt. Auch bei Behörden und der Politik steigt die Bereitschaft, Menschen mit geistiger Behinderung anzuhören. Einen anderen Ansatz verfolgt das Reporter-Team von insieme Zürich, das sich, ausgerüstet mit Kamera und Aufnahmegerät, Gehör und Gesicht verschafft (siehe Porträt unten). Die 27-jährige Larissa erklärt, warum sie mitmacht: «Es gibt zu wenig Reporter mit Beeinträchtigung. Die Leute sollen erfahren, wie die Welt aus unserer Sicht aussieht.»
In diesem Blogbeitrag präsentieren wir drei weitere Gruppen, in denen Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung lernen, für sich selbst zu sprechen: Die Gruppe Mitsprache Thurgau (TAB) trifft sich alle zwei Wochen, um über Themen zu diskutieren, die den Mitgliedern unter den Nägeln brennen. Der Verein Selbstvertretung Kanton Solothurn überprüft städtische Gebäude auf ihre Zugänglichkeit und hat bei den SBB bereits erfolgreich Anpassungen bei den Schalteranlagen durchgesetzt. Die Selbstvertreterorganisation Mensch-zuerst Schweiz (People First), die auch international vernetzt ist, bietet inklusive Weiterbildungen an, die von Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten geleitet werden.
Reporter-Team Zürich
Die Idee, ein Reporter-Team aufzubauen, kam Alberto Cirigliano 2017, als er bemerkte, wie geschickt die jungen Leute bei insieme Zürich mit dem Smartphone und der Kamera umgehen: «Sie haben ein grosses Bedürfnis, auf Facebook und Youtube von sich und ihrem Leben zu erzählen.» Der Geschäftsleiter von insieme Zürich und ein Kommunikationsexperte stehen dem Team unterstützend zur Seite. Im Reporterkurs lernen die Teilnehmenden unter anderem, wie man sich auf ein Interview vorbereitet und selbstständig recherchiert. Alle zwei Wochen treffen sie sich zur Redaktionssitzung, bringen Themen ein und diskutieren sie.
Schliesslich entscheiden sie sich für eine grosse Reportage, die sie alle gemeinsam machen, und für je einen kleineren Videobeitrag pro Person. Berno Brändli, der wochentags in einem mechanischen Betrieb arbeitet, hat von Anfang an im Reporter-Team mitgemacht, denn er habe sich schon immer fürs Filmen interessiert. «Ich mache auch gerne Interviews», ergänzt er an der Videokonferenz mit seinen Kolleginnen und Kollegen. Auch Larissa Altmann, die seit Mai im Treff von insieme Zürich arbeitet, ist schon seit drei Jahren dabei. 2019 hat sie zusammen mit ihren Kollegen ein Video gemacht, in dem sie auf humorvolle Weise dazu aufgerufen haben, die insieme-Wahlhilfebroschüre zu nutzen und an den Parlamentswahlen teilzunehmen.
Auch Sara Cabrera interessiert sich für Politik und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Als die 25-Jährige den Stadtpräsidenten von Bülach interviewte, fragte sie ihn geradeheraus, ob er korrupt sei. Nach einem Konzert der Band Baba Shrimps in der Stiftung Pigna, wo Sara Cabrera in der Küche und im Restaurant arbeitet, interviewte sie die Band und entwickelte mit ihr in mehreren Workshops den Song «Same as you». Und schliesslich Fabio Gubello, der mit seinem Charme bei den Interviewpartnern das nötige Vertrauen aufbaut.
«Die Leute sollen erfahren, wie die Welt aus unserer Sicht aussieht.»
Erfolgreiches Lobbying
Der Verein «Selbstvertretung Kanton Solothurn – Menschen mit Behinderung » wurde 2014 von Pro Infirmis initiiert, ist heute aber unabhängig und selbsttragend. Die Gruppe besteht aus 60 Mitgliedern mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen. Das jüngste Projekt des Vereins war die Überprüfung von rund 200 Gebäuden in Solothurn auf Zugänglichkeit – darunter Restaurants, Banken, Apotheken. «Zehn Mitglieder der Gruppe haben diese Gebäude geprüft und die entsprechenden Daten erhoben», sagt Vereinspräsident Achim Bader. Der fünfköpfige Vorstand trifft sich alle zwei Monate, um die anstehenden Themen zu besprechen, die oft auch von den Vereinsmitgliedern eingebracht werden.
Etwa die Schalteranlagen im Bahnhof Solothurn. «Mit 115 cm sind die Schalter zu hoch für jemanden im Rollstuhl», sagt Achim Bader. «Wir haben das Problem den Zuständigen der SBB vorgelegt und gesagt, dass der Schalter für Personen im Rollstuhl tiefer liegen sollte. Wir haben aber keine Radikallösung verlangt, sondern uns auf den Kompromiss geeinigt, dass bei den Schalteranlagen zusätzlich Klapptische zur Verfügung gestellt werden, die vom Rollstuhl aus bequem erreicht werden können. Inzwischen wurden quer durch die Schweiz bereits 120 Schalteranlagen durch Klapptische aufgerüstet», freut sich Achim Bader.
«Ich will wählen, denn was in der Politik entschieden wird, geht auch mich etwas an.»
Die Gruppe Selbstvertretung Solothurn arbeitet auch mit anderen Organisationen zusammen, wie etwa in der Arbeitsgruppe Wahlhilfe von insieme Schweiz im Herbst 2019. Sabrina Gaetani von Selbstvertretung Solothurn machte anschliessend auch bei der insieme-Kampagne zu den eidgenössischen Wahlen mit und erklärte in ihrem Wahlspot: «Ich will wählen, denn was in der Politik entschieden wird, geht auch mich etwas an.»
Gruppe Mitsprache Thurgau
«Willst du mitreden? Beim Wohnen, am Arbeitsplatz, in der Gemeinde, im Kanton, im Land? Willst du mehr über deine Rechte erfahren? Was wären dann deine Pflichten? Wir sprechen über all das, was uns beschäftigt.» Mit diesen Worten spricht die Gruppe Mitsprache des Bildungsklubs Thurgau Menschen mit Beeinträchtigung an, die sich selbst für ihre Anliegen und Interessen einsetzen wollen. Aktuell besteht die Gruppe aus 10 Personen im Alter zwischen 29 und 66 Jahren.
Maja Knüsel begleitet die Gruppe, gibt aber keine Themen vor, wie sie sagt: «Die Themen entstehen beim gemeinsamen Austausch alle zwei Wochen.» Kurz nach der Gründung 2012 sorgte der Begriff «behindert» für heissen Gesprächsstoff. Alle fanden, der Begriff sei negativ besetzt, oft abfällig verwendet, und suchten nach Alternativen. Schliesslich schälte sich die Bezeichnung «Menschen mit Beeinträchtigung» heraus. Der Sprachgebrauch ist der Gruppe wichtig. So prüft sie gelegentlich Texte daraufhin, ob sie in leichter Sprache wirklich funktionieren.
Aber auch politische Themen und Fragen rund ums Wohnen werden immer wieder zur Diskussion gestellt. Ihr Ziel hat die Gruppe auf einem Plakat festgehalten: «Wir wollen mittendrin sein.»
Einmal hat sich die Gruppe Mitsprache über die Partnervermittlung «Schatzkiste Rorschach» ausgetauscht, erzählt Maja Knüsel. «Dabei kam die Frage auf, wie so ein Treffen wohl funktioniere. Wir haben das dann in einem Rollenspiel ausprobiert. Schliesslich sind zwei Personen der Gruppe tatsächlich zu einem echten Treffen der Schatzkiste gegangen, um einen Partner oder eine Partnerin zu finden.»
«Wir wollen mittendrin sein».
International vernetzt
Die internationale Bewegung People First, in der Menschen mit Lernschwierigkeiten für sich selbst sprechen und einstehen wollen, gibt es seit Langem. Ausgehend von Schweden fasste sie bald in den USA Fuss und um 2000 in Österreich und Deutschland. Inspiriert von diesen Bewegungen, entstand 2014 der Verein Mensch-zuerst Schweiz (People First), der aktuell mit People First Vorarlberg vernetzt ist. Mensch-zuerst Schweiz setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten Selbstbestimmung, Teilhabe und Chancengleichheit in allen sozialen Systemen erfahren und dass die Rechte akzeptiert, aktiv eingefordert und gelebt werden können. Der Verein ist in der ganzen Schweiz tätig mit Schwerpunkten in den Kantonen St. Gallen und Zürich. «Wir sind Menschen mit Lernschwierigkeiten», erklärt Christoph Linggi, der bei Mensch-zuerst Schweiz mitarbeitet und auch im Vorstand ist. Der Verein organisiert inklusive Weiterbildungen, die von Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten gemeinsam geleitet werden. Aktuell leitet Christoph Linggi zusammen mit anderen Experten in eigener Sache und Fachpersonen eine Peer-Weiterbildung in Zürich. «Früher haben mir Betreuer oft erklärt, was ich ihrer Ansicht nach kann und brauche, was gut für mich sei. Durch die Teilnahme an einer Selbstvertreter-Weiterbildung habe ich gelernt, solche Aussagen zu hinterfragen, etwas auszuprobieren und so meine Bedürfnisse selbst zu formulieren», erklärt er.
Ich habe gelernt, meine Bedürfnisse selbst zu formulieren.
Dabei geht es anfangs auch darum, sich selbst kennenzulernen. Das verlangt eine Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen. Aber es lohnt sich: «Ich habe in den letzten Jahren zu einer grösseren Selbstständigkeit gefunden.» Diese Erfahrung möchte Christoph Linggi an andere weitergeben. Denn er weiss: «Alle Menschen können sich verändern und entwickeln.»
Dieser Artikel stammt aus dem im Juni 2020 veröffentlichten insieme Magazin.
Das Projekt «insieme inklusiv»
«insieme inklusiv» hat zum Ziel, Menschen mit einer geistigen Behinderung mehr Teilhabe und Mitbestimmung im Verein sowie in der Gesellschaft zu ermöglichen. Bereits heute gibt es in mehreren regionalen insieme-Vereinen Mitsprache-Gruppen, in denen insieme-Mitglieder mit einer Behinderung ihre Ideen, Wünsche und Bedürfnisse einbringen und diskutieren. Dadurch lernen sie, wie sie ihre Stimme auch im Alltag einbringen können. Zudem wird ein Tool der unterstützten Kommunikation ausgearbeitet, damit diese Ziele auch für Menschen mit einer starken Beeinträchtigung erreichbar sind. Im Herbst 2020 soll ein Workshop durchgeführt werden, an dem weitere insieme-Vereine und interessierte Personen mit und ohne Behinderung teilnehmen und so erfahren, warum es wichtig ist, dass die Stimmen von Menschen mit einer Behinderung gehört werden.