Ob auf selbstironische Art und Weise oder um alltägliche Herausforderungen aufzuzeigen – manche Influencer*innen haben sich dafür entschieden, ihre eigene Behinderung in den sozialen Netzwerken zu inszenieren. Sind solche Einzelinitiativen eine Form von Sensibilisierung oder Engagement zu betrachten? Hinter der Bezeichnung «Influencer*in im Bereich Behinderung» verbergen sich verschiedenste Profile und Nutzungsarten.
Ein kleiner Junge versucht hoch konzentriert, den Reissverschluss seiner Jacke allein zu schliessen. Als er es schafft, bricht er in Jubel aus. Dieses Reel wurde über 21 000 Mal gesehen.
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Als sie mit ihrem dritten Kind schwanger ist, erfährt Myriam Ansermet, dass ihr Sohn Trisomie 21 hat. Gemeinsam mit ihrem Mann beschliesst sie, das Kind zu behalten: «Wir wussten nichts über diese Behinderung und wussten auch nicht, worauf wir uns einstellen mussten. Freunde haben mir Bücher und Instagram-Konten empfohlen. Als ich das Konto lextraordinairemarcel abonnierte, dachte ich mir: ‹Wow, wie cool, dass sie das zeigen!›»
Einige Monate nach Améliens Geburt beschliesst die Familie, ein öffentliches Konto auf diesem Netzwerk zu erstellen, «um zu zeigen, dass unser Alltag gar nicht so viel anders ist». Aber auch, um einen Kontrapunkt zum medizinischen Umfeld zu setzen, in dem die Mitteilung über das Vorliegen einer Behinderung «eine schlechte Nachricht» ist.
Wir wussten nichts über diese Behinderung und wussten auch nicht, worauf wir uns einstellen mussten. Freunde haben mir Bücher und Instagram-Konten empfohlen. Als ich das Konto lextraordinairemarcel abonnierte, dachte ich mir: ‹Wow, wie cool, dass sie das zeigen!›»
Konten wie das der Familie Ansermet gibt es in den sozialen Netzwerken viele. Der Hashtag «Behinderung» taucht über 102 000 Mal auf Instagram auf. «Der Hashtag ist eine Art Verankerung, um den sich Menschen zu einem bestimmten Thema finden. Dass er verwendet wird, ist von grosser Bedeutung. Es zeigt, dass der Wunsch nach Anerkennung des Themas Behinderung besteht», erklärt der Mediensoziologe Olivier Glassey.
Der Hashtag ist eine Art Verankerung, um den sich Menschen zu einem bestimmten Thema finden. Dass er verwendet wird, ist von grosser Bedeutung. Es zeigt, dass der Wunsch nach Anerkennung des Themas Behinderung besteht»
Olivier Glassey, Mediensoziologe
Gerade bei diesem Thema werden zahlreiche Influencer*innen zu Expert*innen in den sozialen Netzwerken. Diese Influencer*innen, die meistens auf eine bestimmte Sparte wie Schönheit oder Reisen spezialisiert sind, versuchen, über ihren Status oder ihre digitale Bekanntheit Einfluss auf Verhaltensweisen und insbesondere den Konsum zu nehmen.
Romain alias «Roro le costaud» (dt. Roro der Kräftige) hat über 200 000 Follower*innen auf Instagram. Das Besondere an den Posts des französischen «Feuerwehrmannes auf Rädern»? Er spricht in seinen schrägen Videos Tabuthemen an.
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Antoine aus Rennes, besser bekannt unter seinem Pseudonym «Antoine un Handicapé» (dt. Antoine der Behinderte), wiederum hat sich dafür entschieden, seine Behinderung nicht in den Vordergrund zu stellen. Er ist der Meinung, dass man nicht nur über sich selbst sprechen sollte, um die Sache voranzubringen, und versucht, auf LinkedIn ein Publikum zu finden, das sich für dieses Thema interessiert: «In Frankreich gibt es kaum Informationen zum Thema Behinderung, und die Menschen wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Dabei gibt es zahlreiche Organisationen mit interessanten Angeboten. Leider berichten die Medien nicht darüber, da diese Beiträge nicht viele Klicks einbringen.»
Auch wenn er lieber als digitaler Botschafter und nicht als Influencer bezeichnet wird, geht es ihm im Endeffekt darum, die Netzwerke für die Sensibilisierung zu nutzen. «Meinen ganzen Alltag zu zeigen, ist nicht so meins. Diejenigen, die Konten von Influencer*innen abonnieren, die auf Storytelling setzen, tun das, weil sie unterhalten werden wollen, aber nicht, um Lösungen zu finden», meint er.
«Meinen ganzen Alltag zu zeigen, ist nicht so meins. Diejenigen, die Konten von Influencer*innen abonnieren, die auf Storytelling setzen, tun das, weil sie unterhalten werden wollen, aber nicht, um Lösungen zu finden»
Antoine un Handicapö, Digitaler Botschafter
Können die individuellen Initiativen dieser Influencer*innen jedoch als eine Form von Sensibilisierung betrachtet werden? Olivier Glassey ist der Meinung, dass die Onlineaktivitäten von beliebten Influencer*innen, die ihr Leben mit einer Behinderung auf nicht stigmatisierende Weise sichtbar machen, zusätzlich zu anderen Formen von Engagement, durchaus hilfreich sein können.
Es braucht Mut, sich zu zeigen. Es ist wichtig, dass nicht nur Aktivist*innen teilen, wie es ist, mit einer Behinderung zu leben.»
Er sagt: «Es braucht Mut, sich zu zeigen. Es ist wichtig, dass nicht nur Aktivist*innen teilen, wie es ist, mit einer Behinderung zu leben.»
Sich die Handlungsfähigkeit zurückholen
Welche Beziehung haben Influencer*innen zu den Menschen, die sich mit ihnen identifizieren? «Eine der wohl wichtigsten Fragen ist, welche Verantwortung Influencer*innen zukommt, die einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht haben. Bisher hat man sich kaum mit dieser Frage auseinandergesetzt, mit Ausnahme der Werbung, wo man beginnt, ihre Geschäftspraktiken zu regeln», meint der Mediensoziologe.
Das Anpreisen von Produkten im Rahmen von Geschäftspartnerschaften ist eine gängige Praxis unter Influencer*innen. Auch im Bereich Behinderung. So preist «Roro le costaud» die einfache Handhabung eines Haushaltsgeräts an.
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Nutzt der alleinstehende Vater, «papa handisolo» wie er sich nennt, seine Behinderung als Verkaufsargument oder leistet er einen Beitrag zur Sichtbarkeit seiner Situation? «Das lässt sich so einfach nicht beantworten. Ich wüsste nicht, warum er nicht wie andere auch das Recht haben sollte, als Selbstständiger von seinem Bekanntheitsgrad zu profitieren», sagt Olivier Glassey.
Natürlich kommt es darauf an, für welche Produkte Werbung gemacht wird. Myriam Ansermet hätte nichts dagegen, wenn ihr Sohn für eine Modelinie modeln würde: «Es berührt mich, Kinder mit Trisomie als Models zu sehen. Behinderungen sind in den traditionellen Medien nicht präsent genug», sagt Myriam, die sich aufgrund ihrer kleinen Followerschaft nicht unbedingt als Influencerin sieht.
«Es berührt mich, Kinder mit Trisomie als Models zu sehen. Behinderungen sind in den traditionellen Medien nicht präsent genug»
Myriam Ansermet, Mutter eines Kindes mit Trisomie 21
Lange Zeit galt es, Behinderungen zu verstecken beziehungsweise sie nicht zu zeigen. Die Body-Positivity-Bewegung will alle Körperformen in sozialen Netzwerken sichtbar und diese so inklusiver machen. Wenn Menschen mit Behinderungen sich dafür entscheiden, ihre oder die Behinderung einer ihnen nahestehenden Person zu zeigen und für ein breites Publikum sichtbar zu machen, holen sie sich ihre Handlungsfähigkeit zurück, meint «Antoine un Handicapé».
Wenn Menschen mit Behinderungen sich dafür entscheiden, ihre oder die Behinderung einer ihnen nahestehenden Person zu zeigen und für ein breites Publikum sichtbar zu machen, holen sie sich ihre Handlungsfähigkeit zurück.
Eine journalistische Vermittlung entfällt somit. Ausserdem «wird der Fokus nicht nur auf einem bestimmten Moment gelegt. In den Netzwerken kann man einer Person über Jahre hinweg folgen. Ohne die zuweilen vorherrschende Gewalt unter den Teppich kehren zu wollen, auf diese Weise werden Möglichkeiten der Gemeinschaft und des digitalen Zusammenlebens geschaffen, welche die traditionellen Medien nicht bieten.»