Das Hotel-Restaurant de la Demi-Lune, malerisch im Herzen des mittelalterlichen Städtchens Saint-Ursanne (JU) gelegen, beschäftigt mehrere Personen mit einer geistigen Behinderung. Auf überzeugende Art und Weise kombiniert das Lokal Inklusion, guten Service und eine fröhliche Atmosphäre.
Am Ufer des Doubs scheint die Zeit stillzustehen, und man überlässt sich der friedlichen Stimmung mit dem Gurgeln des Flusses. Dort liegt das Hotel-Restaurant de la Demi-Lune mit seiner Terrasse. Die meisten Gäste sind mit Rucksäcken oder gar Eispickeln ausgerüstet und sind fasziniert vom historischen Erbe von Saint-Ursanne. Das Hotel- Restaurant besticht durch seinen gepflegten Empfang und die herzliche Atmosphäre. Die Gesichter der Gäste und der Mitarbeitenden strahlen Ruhe und Freude aus. Gegen zwölf Uhr sind rund fünfzehn Gäste anwesend. Jacqueline Monin bewegt sich flink wie eine Libelle zwischen den Tischen: strahlend, aber diskret, lebhaft, aber hoch konzentriert. Mit einem Tuch in der Hand serviert sie einem Paar die Teller mit den Gerichten. An einen anderen Tisch bringt sie zwei Bier. Sie begegnet den Gästen freundlich und aufmerksam.
von Donnerstag bis Sonntag jeweils vormittags, entweder im Restaurant oder bei der Zimmerreinigung. «Sie haben gemerkt, dass ich eher zurückhaltend bin, zumindest am Anfang. Mit der Zeit aber habe ich mich integriert.» Was den Kontakt zu den Gästen betrifft, so hat sie bei ihrem Praktikum in Seedorf eine gute Ausbildung erhalten.
Vorliebe für gut gemachte Arbeit
«Mein Handicap ist die Langsamkeit. Denn ich möchte die Arbeit gründlich und sauber erledigen», erklärt Jacqueline. Das Zimmer 7, eine Suite, ist äusserst zeitintensiv. Die junge Frau ist gewissenhaft und versetzt sich jeweils in die Lage des Gastes. Zudem hat sie ein Auge fürs Detail. «Ich beobachte und lerne. Sogar in den Ferien falte ich das Ende der Toilettenpapierrolle zu einem Dreieck!» Ambitionen für andere berufliche Herausforderungen hat sie keine. «Dies hier ist meine Domäne, mein Ding.»
«Es ist nicht immer einfach, denn man muss wie in einem normalen Restaurant arbeiten und die Gäste so rasch wie möglich bedienen. Gleichzeitig muss man sich um die jungen Menschen kümmern. Es ist aber eine tolle Herausforderung. Es ist schön zu sehen, wie rasch sie Fortschritte machen.»
Rémy Paratte, Koch im Hotel-Restaurant Demi-Lune
Im Gang begegnen wir dem Koch, der gerade Kisten schleppt. Rémy Paratte, 24-jährig, hat schon in den verschiedensten Betrieben gearbeitet. Als er sich beim «Demi-Lune» auf ein Stelleninserat bewarb, sprach ihn besonders die erforderliche Sensibilität für Menschen mit Behinderung an. Denn er hat selbst eine Schwester mit einer autistischen Störung. Ihm gefällt das Konzept, Menschen mit Behinderung in die Arbeitswelt einzugliedern. «Es ist nicht immer einfach, denn man muss wie in einem normalen Restaurant arbeiten und die Gäste so rasch wie möglich bedienen. Gleichzeitig muss man sich um die jungen Menschen kümmern. Es ist aber eine tolle Herausforderung.
Es ist schön zu sehen, wie rasch sie Fortschritte machen. Wie Jonas: Zu Beginn war für ihn alles neu. Wir mussten ihm alles beibringen. Und jetzt kann er selbstständig einen Flammkuchen und eine Fruchtwähe zubereiten.» Jonas Noirjean, 20 Jahre alt, steht mit einem breiten Lachen und funkelnden Augen in der Küche. Zuvor hat er in einer Schreinerei in Pruntrut (JU) gearbeitet. Aber schon damals wollte er Koch werden, weil sein Onkel diesen Beruf ausübt. Leider fand sich keine Gelegenheit. Dass er jetzt im «Demi-Lune» arbeite, habe er der Chefin zu verdanken: «Ich kenne ihren Sohn seit meiner Kindheit.» Er arbeitet fünf Tage die Woche. Dem jungen Mann gefällt die Verantwortung gegenüber der Kundschaft. «Man muss vorwärtsmachen, nicht rumhängen.» Und was gefällt ihm bei seinem Job am wenigsten? «Der Abwasch, aber damit muss jeder Koch beginnen …» Und welches ist sein nächstes Ziel? «Kochen am Herd. Ich mache dies bereits für das Personal, aber für die Gäste bin ich noch nicht auf dem erforderlichen Niveau.»
Instrumente anpassen
Das Hotel-Restaurant de la Demi-Lune hat im April 2019 seine Tore geöffnet. Die Leitung hat Véronique Berberat, wohnhaft in Courgenay (JU). Die Situation ihres bald 18-jährigen Sohnes Sylvain hat sie zu diesem Projekt inspiriert. «Er wollte in der Küche arbeiten, aber wegen seiner schweren Behinderung gab es im Kanton nichts Passendes für ihn», erklärt sie. Sie verfügte bereits über wertvolle Berufserfahrung. So hatte sie sechs Jahre lang im Bereich Behinderung gearbeitet (Bildungsprogramme und Unterstützung von Eltern). Sie absolvierte Praktika im Boutique-Hotel in Martigny (VS), das schon seit mehreren Jahren Menschen mit Behinderung beschäftigt. «Ich fand es dort toll.» Und so beschloss sie, ein Hotel-Restaurant zu eröffnen. Auch andere Familien zeigten Interesse an einem beruflichen Integrationsprojekt.
Doch für die Realisierung dieses Projekts brauchte sie eine beträchtliche Summe Geld. Um den Betrag zusammenzubringen, gründete sie zusammen mit ihrem Mann den Verein «Den Mond vom Himmel holen». Und was für ein Zufall: Den Namen wählten sie, bevor sie das «Demi-Lune» entdeckten. Der Verein, der von Véronique Berberats Mann präsidiert wird, zählt rund 60 Mitglieder. «Ein Jahr lang haben wir auf Märkten verkauft, ein Crowdfunding lanciert und bei Stiftungen angefragt.» Sie mussten ein Lokal finden, das rentabel und für die Mitarbeitenden leicht erreichbar ist. Sie schauten sich diverse Objekte an, bevor sie das «Demi-Lune» fanden. «Im November 2018 war die Schlüsselübergabe: Uns blieben fünf Monate, um alle Renovationsarbeiten zu erledigen und dann im Frühjahr zum Beginn der Touristensaison zu eröffnen.»
Das Personal besteht aus 6 «atypischen» (ohne Behinderung) und 18 «typischen» (mit Behinderung) Angestellten im Sommer (im Winter 6). Für die Art der Behinderung gibt es keine Kriterien. Einzige Voraussetzung ist, motiviert zu sein. Jeder und jede hat einen Lieblingsbereich, hilft aber auch anderswo aus, wie das in Kleinbetrieben üblich ist. «Es ist ein Arbeitsplatz, keine Beschäftigung. Alle haben einen Arbeitsvertrag und bekommen ihren Anteil an Trinkgeld. Unser Ziel ist, dass sie selbstständig werden. Dafür haben wir viele Hilfsmittel den diversen Behinderungen angepasst», erklärt Véronique Berberat. Diese Tools zeigt sie dann einer Supervisorin, die sich mit der ABA-Methode (angewandte Verhaltensanalyse) auskennt. So gibt es etwa ein detailliertes Bestellformular mit Kontrollkästchen. Oder eine Plastikvorlage, die Schritt für Schritt aufzeigt, wie man die verschiedenen Glacé-Coupes zubereitet. Oder eine Checkliste für die Zimmerreinigung, damit nichts vergessen geht. Und in der Wäscherei hängen Fotos an der Wand, welche die Abfolge der verschiedenen Arbeiten veranschaulicht. Es braucht viel Energie, all diese Instrumente einzusetzen und den Betrieb am Laufen zu halten. «Aber es ist interessant und lohnt sich!»
«Ein goldenes Team»
Erweist sich eine Aufgabe als besonders schwierig, wird sie deshalb nicht gleich ausgeschlossen. «Wir sagen uns: Es ist noch nicht die Zeit dafür, das kommt später. Die Aufgabe teilen wir dann auf, damit sie einfacher wird. Wir halten uns im Hintergrund und beobachten. Mit der Zeit ziehen wir uns mehr und mehr zurück.» Eine Mitarbeiterin beginnt zum Beispiel, die Tische abzuräumen. Dann lernt sie, Bestellungen aufzunehmen. Jemand anderes tippt und gibt das Wechselgeld. «Wir wissen genau, wie wir sie wohin bringen wollen, Schritt für Schritt.
Das kommunizieren wir unserem ‹typischen› Personal.» «Das goldene Team zu finden, das funktioniert, ist eine Herausforderung.» «Typische» Mitarbeitende müssen in der Lage sein, auch an härteren Tagen anzupacken: Sachlich an die Arbeit gehen und auffangen, was der Kollege oder die Kollegin nicht erledigen konnte, Empathie und Solidarität stehen ganz oben – in beide Richtungen. Berberat illustriert dies am Beispiel einer ihrer Angestellten mit Behinderung: «Sie ist unglaublich, sie setzt sich zu 100 Prozent ein und hilft allen. Was auch passiert, sie bleibt zuversichtlich. Sie schafft es sogar, uns zu motivieren und sagt: ‹Es wird schon klappen!›»
Inklusion bringt eine andere Atmosphäre mit sich als in einem normalen Restaurant – für die Gäste wie auch für das Team. «Sylvains Mitarbeiter schätzen es sehr, ihn in der Küche zu haben, weil er immer gut gelaunt ist.» Das steigert die Motivation. «Sie arbeiten immer gerne!» Sie lieben Kontakte und gehen auf die Gäste ein, die das sehr schätzen. Es kamen schon Leute aus den Kantonen Waadt, Neuenburg und Basel, um im «Demi-Lune» Rat zu holen und allenfalls ein ähnliches Projekt auf die Beine zu stellen.
Dieser Artikel stammt aus dem im September 2018 veröffentlichten insieme Magazin.