Wer eine geistige Behinderung hat, erhält kaum einen Mietvertrag für eine Wohnung. Viele träumen davon, in einer eigenen Wohnung zu wohnen. Aber dies ist nur eine von mehreren Möglichkeiten des Wohnens nach eigenen Vorstellungen.
New-York-Marathon, Jungfrau-Marathon, 100 Kilometer von Biel. In den letzten dreissig Jahren hat Sébastien Vulliemin noch viele weitere Läufe absolviert. Aber heute bei unserem Treffen braucht er keinen Wettlauf zu bestreiten. Er wirkt etwas schüchtern, als er uns in seiner Zweizimmerwohnung in Sainte-Croix (VD) empfängt, wo er seit sechs Jahren alleine lebt. Sowohl das Schlaf- als auch das Wohnzimmer sind angefüllt mit Medaillen, Trophäen, Fotos und verschiedenen Souvenirs aus der äusserst sportlichen Zeit des Mannes. Seit zwei Jahrzehnten lebt er in einer geschützten Werkstatt bei der Stiftung Polyval in Yverdon. Nach und nach legt Sébastien Vulliemin seine Schüchternheit ab. Er wird sogar äusserst mitteilsam, besonders wenn es um seine verschiedenen sportlichen Aktivitäten geht: «Ich machte jeden Monat einen Halbmarathon, ich war verrückt! Wenn man so besessen ist, zählt nichts anderes.»
Sébastien Vulliemin, der heute Parkinson hat, lebt seit seinem 24. Altersjahr, als er das Elternhaus verliess, in einer eigenen Wohnung, sei es allein oder mit einer Gefährtin. Die Wohnung in Sainte-Croix hat er über eine gewöhnliche Immobilienverwaltung gefunden. Das ist ein Glücksfall, denn eine Person, die von einer Invalidenrente (IV), Ergänzungsleistungen (EL) und anderen Leistungen lebt, wird als zu wenig vertrauenswürdig erachtet, um einen Mietvertrag abzuschliessen.
Immobilienverwaltungen sensibilisieren
«Es ist wichtig, die Immobilienverwaltungen für die unterschiedlichen Arten von Einkommen und Leistungen zu sensibilisieren. Viele wissen nicht, dass diese Personen von ihren Einkünften keine Steuern zahlen müssen», erklärt Etienne Blanc, Verantwortlicher des Projekts HandiLoge bei Pro Infirmis Vaud. HandiLoge will es Menschen mit Behinderung erleichtern, eine Wohnung zu mieten. Im Rahmen dieses Projekts wurden Partnerschaften mit rund zwanzig Immobilienverwaltungen aufgebaut. «Wir machen uns nicht auf die Wohnungssuche. Die Personen müssen ihre Recherchen selbst machen», ergänzt Etienne Blanc. Sie geben den Verwaltungen auch Informationen über die Behinderungen der Wohnungssuchenden. Könnte dies nicht zu einer Form von Diskriminierung führen? «Anfangs befürchteten die Personen dies. Aber die Offenheit schafft bei den Verwaltungen Vertrauen. Sie wird geschätzt.» Im Moment sind es 65 Wohnungen, die dank HandiLoge vermietet wurden, fast die Hälfte davon an Menschen mit geistiger Behinderung.
Unterschiedliche Wohnformen erfassen
Evelyne Ramelet wohnt seit langem selbstständig. Die Fünfzigjährige hat eine geistige Behinderung und wohnt zusammen mit ihrer Katze Océan und ihrer Schildkröte in einem Studio in Genf. Aber allein in der eigenen Wohnung zu wohnen ist bei Weitem nicht die Norm für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Die meisten leben im institutionellen Rahmen, sei es im Wohnheim oder in einer Aussenwohngruppe. Starken Zulauf haben Wohnschulen, wo die Menschen auf das Wohnen in einer eigenen Wohnung vorbereitet werden. Mit einem Assistenzbeitrag können Unterstützungsleistungen beim Wohnen in der eigenen Wohnung finanziert werden. Um einen Überblick über die unterschiedlichen Wohnformen zu gewinnen, hat der Bund das Projekt «Bestandesaufnahme des Wohnangebots für Menschen mit Behinderungen» lanciert. insieme Schweiz beteiligt sich daran mit einer Begleitgruppe.
Sébastien Vulliemin, 51 Jahre
«Bei dir kann man ja auf dem Boden essen! Das sagt man mir oft», sagt der ehemalige Marathonläufer. Haushalt, Putzen, Kochen, Waschen. Sébastien Vuillemin erledigt seine täglichen Pflichten praktisch selbstständig. Der ausgebildete Schriftenmaler arbeitet 80% bei der Stiftung Polyval. In seiner Freizeit spielt er Fussball, geht Schwimmen, macht Leichtathletik, Nordic Walking und Mini-Golf: «Manchmal koche ich Pasta, wenn ich nach Hause komme und falle dann gleich ins Bett!» Am Freitag stehen Putzen und Waschen auf dem Plan, wenn er nicht gerade einen Arzttermin hat. Die nötigen Handgriffe wollen gelernt sein: «Ich koche gerne Gemüse. Das habe ich bei meinen Eltern gelernt. Als ich etwa fünfzehn war, bat mich meine Mutter immer, einfache Dinge in der Küche vorzubereiten, bevor sie von der Arbeit nach Hause kam», erinnert sich Sébastien Vuillemin. Für finanzielle und administrative Arbeiten erhält er Unterstützung: «Ich habe seit etwa drei Jahren eine Beiständin. Ich bin sehr zufrieden.» Auch Andrea Mariotta, Betreuer bei den Services d’Accompagnement à Domicile der Stiftung Vernand, besucht ihn regelmässig: «Im Moment arbeiten wir daran, wie der Übergang vom Wettkampf- zum Genussmodus aussehen könnte.» Die Parkinsonkrankheit drückt auf die Moral von Sébastien Vuillemin und schränkt seine sportlichen Möglichkeiten ein: «Während dem Training im Wald bin ich mehrmals hingefallen. Das ist hart. Aber ich versuche mich wieder aufzurappeln!»
Evelyne Ramelet, 50 Jahre
«Tassen mit dem Porträt von Johnny Hallyday, Poster, CDs: Das Studio von Evelyne Ramelet zeugt von ihrer Leidenschaft für den Sänger. Sie hat es vor etwa 20 Jahren dank der Unterstützung ihrer Eltern gefunden. «Mit 30 Jahren wollte ich meine Unabhängigkeit. Ich hatte Lust, ein Haustier zu halten, aber meine Eltern wollten nicht», erklärt sie. Als Evelyne Ramelet noch bei ihren Eltern wohnte, kümmerten die sich um das Administrative. Heute hat die Fünfzigjährige eine Amtsbeiständin, die ihr diese Last abnimmt. Vier Mal in der Woche fährt Evelyne Ramelet im Bus zur Arbeit in der Société Genevoise pour l’Intégration Professionnelle d’Adolescents et d’Adultes (SGIPA): «Wir machen Schiefertafeln für den Service in den Restaurants.» Davor war sie im ersten Arbeitsmarkt beschäftigt und packte für ein Unternehmen Dokumente in Kuverts. Nach einer wirtschaftlich bedingten Entlassung blieb sie ein Jahr lang arbeitslos: «Ihre Schwester hat uns dann kontaktiert. Wir haben sie bei der Arbeitssuche und bei ihrer Anstellung in einer geschützten Werkstatt begleitet», erklärt Françoise Mégevand, Verantwortliche Familienberatung und Ferienprogramme bei insieme Genève. Kochen und Haushalten hat sie auf einem Bauernhof in Echallens (VD) gelernt. Wenn sie um halb fünf von der Arbeit nach Hause kommt, plant Evelyne Ramelet den Abend: «Entweder mache ich den Haushalt oder besuche meine Freundin, die in der Nähe wohnt. Ich helfe ihr bei den Einzahlungen bei der Post.»
Shana Wullschleger, 39 Jahre
«Wuauuuu, das ist meine Traumwohnung, die wünsche ich mir zu Weihnachten!», rief Shana bei der Wohnungsbesichtigung. Heute wohnt sie dort allein, doch es war ein langer Weg. 15 Jahre hatte sie in einer Institution gelebt: «Es hat dort nie richtig gestimmt für mich. Ich habe gekämpft, bis ich das Wohnheim endlich verlassen konnte», erzählt Shana. Dank Kontakten und ihrem starken Willen bekam sie einen Platz in einer Wohnschule, wo sie das Haushalten lernte. Bereits ein halbes Jahr später zog sie in ihre eigene Wohnung. Heute wird sie von Karin unterstützt, einer Betreuerin vom Verein Stützpunkt Alltag, die sie selbst ausgesucht hat. Shana arbeitet halbtags an einem geschützten Arbeitsplatz. Einkaufen, Kochen und Putzen ist kein Problem für sie: «Ich koche gerne und freue mich über Besuch.» Mit den Nachbarn im Haus versteht sie sich gut, und ihr Freund kann sie jetzt jederzeit besuchen. Das war in der Institution nicht möglich. Zwei Mal pro Woche kommt Karin und unterstützt sie beim Umgang mit Facebook, bei den Finanzen oder der Frage, wann ein Arztbesuch nötig ist. «Wenn ich fürs Essen einkaufe, sammle ich die Kassenzettel und übergebe sie Karin einmal im Monat. Dann schauen wir zusammen, ob ich beim Einteilen noch etwas verbessern kann.» Irgendwann möchte sie mit ihrem Freund zusammenleben, aber vorerst geniesst sie ihre eigene Wohnung: «Endlich zuhause. Ich bin so glücklich!»
Dieser Artikel stammt aus dem im Dezember 2018 veröffentlichten insieme Magazin.