Wie hat sich der Blick auf die Behinderung im Schweizer Fernsehen im Verlauf der letzten 70 Jahre verändert? Ein Forschungsprogramm des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) hat dies in Zusammenarbeit mit dem Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS) analysiert und festgestellt: Es gibt durchaus Fortschritte, aber der manchmal diskriminierende Blick auf die Behinderung existiert im Fernsehen auch heute noch.
Eine beliebige Reportage über eine Institution für Menschen mit einer Beeinträchtigung aus der Zeit zwischen 1950 und 2018 – der Bildaufbau ist immer der gleiche: Die Personen werden bei einer alltäglichen Tätigkeit gefilmt, der Blick geht über ihre Schulter, damit man sieht, was sie gerade tun. Anschliessend kommen aber nicht sie selbst, sondern Mitglieder der Leitung und des Personals der Institution in Interviews zu Wort. In dieser Art Reportage werden die Personen mit Beeinträchtigung nur gerade als Illustration für die Einrichtung und ihre Funktionsweise dargestellt.
Wenn eine Person Thema einer Sendung ist, wird sie in der Regel als soziale Integrationsfigur inszeniert, die für den Sender RTS zur Referenz wird. Sie wird zu einer Medienfigur in der Westschweizer Öffentlichkeit und im Verlauf ihres Lebens immer wieder kontaktiert. Justine Scheidegger, die als Doktorandin an dem Projekt mitarbeitet, hat allerdings festgestellt, dass dies fast nur dann geschieht, wenn es sich um eine positive Entwicklung handelt. Diese Erfolgsgeschichten, die oft einen aussergewöhnlich starken Willen betonen, nähren das Stigma der Superheld*innen. Auch wenn es ein positives Stigma ist, betont es doch die Andersartigkeit der Betroffenen und die dramatische Sicht der Gesellschaft auf das Thema Behinderung. «Auf diese Art vermeidet man einen kritischen Blick auf die Gesellschaft», sagt die Forscherin.
Noch heute wird in den Medien von den ‹Unglücklichen› gesprochen, ein Begriff, der suggeriert, dass Menschen mit Beeinträchtigungen zwangsläufig unglücklich sind.
Trotz Fortschritten gibt es weiterhin Diskriminierungen
Im Laufe ihrer Analysen hat die Forscherin Fortschritte in Bezug auf die Bezeichnungen für Menschen mit Beeinträchtigungen und das Vokabular für das Thema beobachtet: «Ich habe immer wieder festgestellt, dass zunächst das in den Sendungen befragte medizinische Personal neue Begriffe für Menschen mit Behinderungen eingeführt hat. Drei, vier Jahre später haben die Journalist*innen diese Begriffe übernommen.» Dennoch geht der Wandel nicht tief. «Noch heute wird in den Medien von den ‹Unglücklichen› gesprochen, ein Begriff, der suggeriert, dass Menschen mit Beeinträchtigungen zwangsläufig unglücklich sind.»
Trotz Fortschritten im Umgang mit dem Thema im Fernsehen kommt es immer noch oft zu Diskriminierung. So werden im Sportbereich Wettkämpfe anders dargestellt, wenn es um Behindertensport geht: «Da werden vor allem Ärzte interviewt, statt dass nach dem Punktestand gefragt wird. Das fügt dem Thema eine medizinische Dimension hinzu, die nicht relevant ist», kritisiert Justine Scheidegger.
In einzelnen Dokumenten aus den Archiven wurden auch Formen symbolischer Gewalt aufgedeckt. So wurde in einer Reportage über die Eröffnung des S-Bahn-Netzes in Zürich eine Gruppe von Menschen mit Beeinträchtigungen gefilmt, die gegen architektonische Barrieren dieser neuen Einrichtung protestierte, die sie bei ihrer Mobilität behinderten. Der Journalist sprach sie kurz an und setzte dann sein Loblied auf die neue Infrastruktur fort, ohne die Diskriminierung weiter zu thematisieren oder die Verantwortlichen darauf anzusprechen. Diese Art der Berichterstattung ist beispielhaft dafür, wie schlecht Menschen mit Behinderungen im Fernsehen repräsentiert sind. Während in der Schweiz 15 bis 20 Prozent der Menschen mit einer Beeinträchtigung leben, kommen sie nur in 2 Prozent der Fernsehsendungen vor.
Starker Kontrast zwischen den Generationen
Parallel zu dieser Analysearbeit gibt es inklusive und partizipative Workshops, in denen Personen mit Beeinträchtigung, Journalist*innen und Behindertenorganisationen gemeinsam eine Auswahl an Archivmaterial visionieren und anschliessend darüber diskutieren. Organisiert werden diese Workshops von Alexandra Tilman, Soziologin und SNF-Forscherin für dieses Projekt: «Dabei stellen wir grosse Unterschiede fest zwischen Menschen, die in den 1960er-Jahren in Heimen aufgewachsen sind, und jungen Menschen heute, die auch von Systemen ausserhalb von Heimen profitieren, in der Familie, in den Schulen und in Vereinen. Die kognitiven Fähigkeiten und die Art und Weise, wie sie sich ausdrücken, sind nicht die gleichen». Die Diskussionen werden gefilmt, um daraus einen Dokumentarfilm zu machen. Dazu wird eine partizipative Plattform eingerichtet. Später soll dieses Material in Schulen und Vereinen genutzt werden, um das Bewusstsein zu schärfen und einen Weg zu einer inklusiven Gesellschaft aufzuzeigen.
Caroline Goretta von ASA-Handicap mental ist schockiert über die symbolische Gewalt, die in diesem Bild von 1970 zum Ausdruck kommt: Die Kinder, von denen einige im Rollstuhl sitzen, singen «Die beste Art, sich vorwärts zu bewegen, ist einen Fuss vor den anderen zu setzen».
Pierre Weber, Mitglied von ASA-Handicap mental, kennt die Art Atelier wie dieses von 1978 in der Institution Espérance gut: «Ich habe dafür gekämpft, aus der Institution herauszukommen. Man sagte uns ständig, dass wir hier sicher seien und dass es draussen hart sei.»