Für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung sind Geduld, Vertrauen und Erklärungen wichtig, damit eine Konsultation positiv verläuft.
Mit 20 Jahren betritt Sasha Bandelier zum ersten Mal die Praxis, in der die Dentalhygienikerin Catherine Schubert Chung Patienten mit geistiger Behinderung behandelt. Das im Rahmen von Handiconsult entwickelte Programm «Mundhygiene» bietet Konsultationen in der Praxis und zuhause an. Mit Blick auf die Fensterfront hat Sasha, der mit Autismus lebt, auf dem Behandlungsstuhl Platz genommen, einen Gehörschutz über den Ohren. Der junge Mann reagiert empfindlich auf Lärm, Temperaturunterschiede und Menschenmengen. Er war gern bereit, an diesem Bericht mitzuwirken, wollte aber nicht von vorne fotografiert werden.
Heute geht es um eine eher informative Sitzung. «Wir erklären, aber wir machen nichts. Wenn wir das Gefühl haben, dass der Patient Vertrauen gefasst hat, schlagen wir vor, mehr zu machen. Es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen und nicht gestresst zu sein», betont die Dentalhygienikerin.
In den letzten fünf Monaten hat sie sich im Rahmen von Besuchen bei Sasha zuhause nach und nach dessen Vertrauen erworben. Seit fast zehn Jahren verweigert Sasha jegliche Annäherung an seinen Mund und will seine Zahnfleischentzündung nicht behandeln lassen. «Bei einem Besuch hat er mir eines seiner Videospiele erklärt. Dann war er einverstanden, dass ich ihm die Zähne putze», erzählt Catherine Schubert Chung voll Freude. Manche Besuche bei Sasha zuhause verlaufen nicht immer wie geplant und mitunter gilt es auch, zu improvisieren. An schlechten Tagen will Sasha überhaupt nicht behandelt werden. An anderen Tagen braucht es LED-Lampen des Rollers, um für besseres Licht zu sorgen.
«Bei einem Besuch hat er mir eines seiner Videospiele erklärt. Dann war er einverstanden, dass ich ihm die Zähne putze.»
Catherine Schubert Chung , Dentalhygienikerin
Doch beim heutigen Besuch gibt es eine positive Überraschung: Sasha hat ausreichend Vertrauen gefasst und ist für mehr als nur die Vermittlung von Informationen bereit. Nach und nach setzt die Dentalhygienikerin die Zahnbürste ein und erklärt ihm dabei ausführlich, was sie als nächstes tun wird. «Siehst du die beiden Punkte da, die dich stören? Das ist keine Karies, aber es sind besonders empfindliche Zähne», beschreibt sie den Befund. Aufgrund des Säuregehalts von Sashas Lieblingsbonbons, den französischen «Têtes brûlées», sowie der Tatsache, dass Sasha mit den Zähnen knirscht, nutzt sich der Zahnschmelz stark ab und verursacht die Überempfindlichkeit. Dann setzt Catherine Schubert Chung mit einem Spiegel und einer Häkchensonde ihre Untersuchung fort. «Bitte drücken Sie nicht zu fest mit dem Spiegel», fordert Sasha.
Die unangenehme Suche nach kariösen Stellen weicht schon bald einer anderen Behandlung. «Geh mal mit deiner Zunge über deine Zähne und sag mir, wo du das Gefühl hast, dass es schon ganz glatt ist, und wo du noch raue Stellen spürst», bittet Catherine Schubert Chung den Patienten. Sasha folgt ihren Anweisungen: «Oben rechts innen. Aber gehen Sie nicht zu nah an das Zahnfleisch!» Nachdem die Dentalhygienikerin den Zahnstein entfernt hat, erklärt sie ihrem Patienten, warum dieser zu sehen ist. «Du hast wieder angefangen, deine Zähne zu putzen, und so ist der Zahnstein, der unter dem Zahnfleisch war, wieder sichtbar geworden.»
Der heutige Besuch verläuft ohne Probleme. Nach mehreren kleinen Pausen schlägt Catherine Schubert Chung vor, die Zahnreinigung fortzusetzen, dieses Mal aber mit einem Ultraschallgerät. «Ich habe bei bestimmten Frequenzen ständig einen Tinnitus. Können wir das Gerät erstmal nicht im Mund ausprobieren?», fragt Sasha sichtlich beunruhigt.
«Viele Leute trauen sich nicht, zum Zahnarzt zu gehen. Ich habe mir gesagt: «Ich brauche keine neuen Zähne, sondern muss meine nur reinigen lassen.»
Das geht leider nicht, denn das Gerät muss in Kontakt mit einem Gegenstand sein. Sasha willigt in einen Versuch ein und nimmt sein Telefon, um die Frequenz des Ultraschallgeräts zu messen. Ganz vorsichtig und in ständigem Gespräch mit Sasha führt die Dentalhygienikerin das Gerät an die Zähne ihres Patienten. «Schau mal, was wir alles entfernt haben. Super! Aber du entscheidest, ob wir aufhören.» Er zögert kurz und beschliesst, die Behandlung zu beenden. «Der Wasserstrahl für das Mundspülen macht zu viel Lärm und es wird zu warm», erklärt Sasha. Dennoch hat der junge Mann viele seiner Ängste überwunden. «Viele Leute trauen sich nicht, zum Zahnarzt zu gehen. Ich habe mir gesagt: «Ich brauche keine neuen Zähne, sondern muss meine nur reinigen lassen.’»»