Freuden und Leiden im digitalen Familienalltag

Autor

Susanne Schanda

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Ein Leben ohne Smartphone ist heute kaum vorstellbar – besonders für Jugendliche. Telefonieren, Sprach- und Textnachrichten verschicken, den Wetterbericht ansehen, den Fahrplan lesen, Musik hören und Filme ansehen. Ganz zu schweigen von den endlosen Verlockungen der Social-Media-Plattformen – eine Herausforderung für Familien.

Eine junge Frau mit geistiger Behinderung trägt Kopfhörer um den Hals, stützt sich mit den Ellbogen auf einem Geländer ab und schaut auf ihr Handy.

Kommunizieren mit Freunden und Familie, Filme schauen und Musik hören: Das Handy eröffnet Sarah neue Welten. Foto: Vera Markus.

Die Kopfhörer hängen ihr um den Hals auf den pinkfarbenen Kapuzenpulli, mit den Händen umfasst sie liebevoll ihr Smartphone und schaut erwartungsvoll auf das Display. Sarah Gerber ist 20 und hat seit zehn Jahren ein Handy. Anfangs in der Sonderschule nutzte sie es zum Musikhören und Filmeschauen, aber auch zum Rechnen. Und heute? «Ich brauche es zum Telefonieren mit meinem Freund und für Sprachaufnahmen. Die schicke ich ihm auf Whats-App. Und ich höre sehr gerne Musik. Dafür brauche ich YouTube», erzählt sie.

Sarahs Eltern sind den digitalen Medien gegenüber aufgeschlossen und sehen auch die praktischen Aspekte: «Durch das Handy ist sie für uns erreichbar, und sie kann sich jederzeit melden, wenn etwas Kommunizieren mit Freunden und Familie, Filme schauen und Musik hören: Das Handy eröffnet Sarah neue Welten. ist», sagt die Mutter, Ursula Gerber. «Als Sarah mit 16 in die Berufsschule kam, musste sie die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und rief mich an, wenn sie dabei Probleme hatte. Wenn der Bus zu spät kam, wenn sie die Haltestelle nicht fand oder den Fahrplan nicht verstand, konnte ich ihr am Telefon weiterhelfen.» Die Eltern haben Sarah das Handy eingerichtet, den Nachrichtendienst Whats-App, YouTube und weitere Apps heruntergeladen. Doch bei den Social-Media-Plattformen sind sie vorsichtig. «Ich habe ihr von Anfang an erklärt, Facebook und Instagram sei nichts für sie», erklärt der Vater, Thomas Gerber, «denn sie ist zu gutgläubig und sieht einfach keine Gefahren. Wir sprechen über alles mit Sarah, sie weiss, dass wir keine Berührungsängste und Tabus kennen und sie mit allem zu uns kommen kann. Ihr Freund darf bei ihr schlafen, wir haben ihn auch schon in die Ferien mitgenommen.»

Eine jung Frau mit geistiger Behinderung liegt auf einem Sofa und macht von sich ein Selfie mit dem Handy.
Auf Facebook sucht Sarah neue Kollegen. Foto: Vera Markus.

Verlockungen und Gefahren im Internet

Sarah hat durchaus ein Leben ausserhalb der digitalen Medien. Sie tanzt in der Hiphop-Tanzgruppe Niederlenz und ist aktiv in einer Klettergruppe von PluSport Lenzburg, wo sie ihren Freund kennengelernt hat. Nach einem Berufsvorbereitungsjahr arbeitet sie heute in der Stiftung «Orte zum Leben». Das Internet übt immer wieder einen unwiderstehlichen Sog auf die 20-Jährige aus, besonders, wenn sie schlechte Laune hat oder sich über etwas ärgert. Trotz aller Warnungen ihrer Eltern hat sie sich mit der Hilfe von jemandem heimlich ein Facebook-Account eingerichtet. Warum? «Auf Facebook suche ich neue Kollegen, damit ich nicht allein bin. Ich schreibe: ‹Ich suche nette Kollegen. Nur Freundschaft.› Ich mache auch Selfies.» Ihr Freund ist nicht auf Facebook. Er redet nicht so viel. Nicht genug, meint sie. «Ich suche jemanden zum Reden.» Deshalb akzeptiert sie jede Freundschaftsanfrage auf Facebook.

Ein Elternpaar schaut auf ein Handy. Die Frau sitz an einem Tisch und der Mann steht hinter ihr.
Für die Eltern ist Facebook mittlerweile ein rotes Tuch. Foto: Vera Markus

Für die Eltern ist Facebook mittlerweile ein rotes Tuch. Sie sind beide nicht auf der Social-Media-Plattform aktiv. Der Vater erzählt von einem Vorfall, der sie nachhaltig erschüttert hat: «Einmal verabredete sich Sarah über Facebook, und der Mann kam tatsächlich vorbei. Parkierte aber 300 Meter von unserem Haus entfernt. Als er vor unserem Haus stand, telefonierte er Sarah, sie solle nun kommen. Wir waren im Garten und hörten plötzlich die Haustüre ins Schloss fallen. Als wir nachschauten, war Sarah weg. Wir suchten sofort nach ihr, und unser Nachbar fand die zwei beim Auto des Mannes, bevor sie einstieg. Er redete auf den Mann ein und nahm Sarah mit nach Hause. Zum Glück! Was wäre geschehen, wenn sie eingestiegen wäre?» Sarah findet ihre Eltern zu streng. Ja, sie habe dem Mann gesagt, er solle sie zu Hause abholen. «Weil ich ihn schön gefunden habe. Er war auch lieb. Wir haben viel geredet. Ich hatte fest Vertrauen. Nein, Angst hatte ich keine.»

Hin und wieder kontrolliert der Vater Sarahs Handy. Einmal öffnete er ihre Bildergalerie. «Mir wurde fast schlecht, als ich die Fotos dieser grausigen Typen sah! Darunter sind auch 55-Jährige, die sie auffordern, Fotos von sich zu schicken», sagt er verzweifelt: «Sie findet diese Männer alle schön und lieb!» Immer wieder versucht er, ihr die Gefahren des Internets aufzuzeigen, aber sie höre nicht auf ihn. «Sie wirft mir vor, ich würde ihr keine Freude gönnen.»

Verantwortungsvollen Umgang mit dem Internet lernen

In der Sonderschule hat Sarah nie etwas über die Nutzung von digitalen Medien gelernt. Die Eltern wünschten sich, sie könnte dafür wenigstens einen Kurs besuchen. «Sie müsste lernen, verantwortungsvoll damit umzugehen. Auf jemand Aussenstehenden würde sie vielleicht eher hören als auf uns. Wir sind zu nah und reden ihr immer drein, wie sie meint.»

Einzelne insieme-Vereine und Pro Infirmis bieten Kurse über Mediennutzung an, doch eine umfassende Medienbildung wird so nicht geleistet. Der Medienheilpädagoge Achim Hättich fordert, dass Medienkunde ein Schulfach wie Lesen und Schreiben sein sollte. insieme Schweiz gibt zusammen mit der BFF Bern und weiteren Partnern eine Broschüre für die Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung im Internet heraus, die sich an Eltern richtet.

 

Dieser Artikel stammt aus dem im Juni 2019 veröffentlichten insieme Magazin.

Suzanne Schanda

Susanne Schanda

Kommunikation insieme

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